Was Michel Houellebecq im Januar 2015 präsentierte, wurde heiß diskutiert – über das Feuilleton hinaus, in aller Öffentlichkeit. Literatur war plötzlich wieder eine Autorität, auch, oder gerade weil »Unterwerfung« vorgeworfen wurde, der Roman schüre Ängste sowie Hass gegenüber den Muslimen. Da hatte ein Buch angeblich Position bezogen, was im gegenwärtigen Literaturbetrieb nicht allzu oft geschieht.
Dass der beschworene Konflikt blitzartig seinen Gipfel erreichte, nur in einer dem Roman gegenläufigen Richtung, nämlich in Form des Terroranschlags auf das Satiremagazin »Charlie Hebdo«, konnte Houellebecq nicht ahnen und doch kam es zu diesem unheimlichen Moment: Literatur und Realität gerieten unheilvoll in Mixtur – ein Bestseller wäre es dennoch ohnehin geworden.
Vladimir Sorokin veröffentlichte schon 2013 »Telluria« in Russland. Nun erscheint das dystopische Potpourri in Deutschland. 50 Erzählungen, in deren Mitte ein Europa als Flickenteppich präsentiert wird, ein Europa nach dem großen Krieg der Zukunft. Was eint »Unterwerfung« und »Telluria«“? In beiden Werken gerät die westliche Stabilität unter die Räder der fanatischen Islamisten. Bei Houellebecq liegt Frankreich im Fokus; Sorokin ordnet ganz Europa neu – nach den infernalen Attacken der Islamisten, die jedoch nach langem Kampf geschlagen werden können.
Wem Sorokins Literatur präsent ist, der wird altbekanntes entdecken: Die Opritschniki morden und brandschatzen, auch der Großgossudar regiert, wenn auch in abgespeckter Variante, die dreistöckigen Pferde legen gewaltige Haufen, und dann ist da der immer gegenwärtige Hinweis, dass die Obrigkeit das Volk zum Narren hält. Sorokin schreibt hier keinen Roman wie den vielumjubelten und preisgekrönten »Der Schneesturm«. Er lehnt sich eher seinen Geschichten rund um »Der Zuckerkreml« an, die 2010 erschienen.
In »Telluria« stellt der mittlerweile auch in Berlin lebende Sorokin sein gesamtes Spektrum an handwerklichem Können in die Auslage. Scheinbar jedes literarisches Genre bespielt er meisterlich und es scheint so, als will er auch keines auslassen. So vielfältig die politische Neuordnung, so vielfältig schreibt Sorokin.
Und da ist noch etwas auffälliges, das in Sorokins erzählten Welten fest verwurzelt ist: die Droge. Einst waren es kleine Fische, die durch die Venen rauschen und Rauschzustände entfachen (»Der Tag des Opritschniks«). Oder es handelte sich um geometrische Formen, wie die transparenten Pyramiden, deren verdampfende Hülle den Übergang in eine andere, bessere und gereinigte Welt erleichterten (»Der Schneesturm«).
In »Telluria« treibt es Sorokin auf die Spitze: die Menschheit giert nach Nägeln aus Tellur, die man sich im Idealfall von Fachmännern, den sogenannten Zimmermännern, ins Hirn schlagen lässt. Der ultimative Kick. Ein gefährliches Unterfangen, aber eine Flucht, die sich lohnt. Es scheint, als müsse sich das menschliche Gehirn in Sorokins Zukunftsvision um jeden Preis der Realität entwinden, als sei das Leben nur in der Fiktion ertragbar.
»Telluria« wird weniger Wellen schlagen als »Unterwerfung«. Nicht etwa, weil es Sorokin nicht versteht, Literatur zu komponieren, die sich positioniert. Wenn einer Stellung bezieht, dann ist es Vladimir Sorokin. Aber hier handelt es sich um keine stringente Erzählung, die das zentrale Ereignis vom Zündholz bis zur Flamme verfolgt und damit ein breitgeschichtetes Publikum zu unterhalten weiß.
Sorokin zielt mehr auf eine Bestandsaufnahme ab, er zeigt Resultate einer Zukunft, die verschwommen aufzuziehen droht. Damit ist er vielleicht näher an der Realität als Houellebecq − gerade das scheint abstrus und doch ist es genau das Faszinierende an Sorokins Literatur. Sein Blick ist scharf, seine Zunge bissig − »Telluria« ist unerbittlich.
Vladimir Sorokin: Telluria. Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel. Kiepenheuer und Witsch: Köln 2015.