Hierzulande nennt man die orangefarbenen Zitrusfrüchte Apfelsinen. Darin (wie auch im niederländischen »appelsien«) klingt noch die ursprüngliche Herkunft der Früchte an – China. Doch Linus, der Protagonist in Truus Mattis Roman »Apfelsinen für Mister Orange«, nennt den Mann, dessen Namen sich der Sohn eines Obst- und Gemüsehändlers nicht merken kann und dem er alle zwei Wochen eine Kiste mit besagtem Obst ins Atelier bringt, einfach »Mister Orange«. Das ist wenig verwunderlich, spielt die Geschichte doch auch in New York.
Linus, der tagsüber mit seinem Obst- und Gemüsekarren durch die Straßen von Manhattan zieht, hat diese Aufgabe genau wie die neuen, noch etwas zu großen Schuhe, vom älteren Bruder Apke (eigentlich Alfred) geerbt, der im Laufe des Romans als freiwilliger Soldat in den Zweiten Weltkrieg ziehen wird. Doch der Reihe nach.
Die niederländische Autorin nimmt uns mit in die Metropole an der Ostküste der Vereinigten Staaten, man schreibt das Jahr 1943 und der Krieg ist in vollem Gange. Um den geht es zwar auch, aber er ist eher ein Nebenschauplatz. Vor allem geht es um Linus und jenen ominösen Herrn, der kein Geringerer ist als Piet Mondrian. Mondrians Identität wird zwar erst im Nachwort explizit genannt, sie zeichnet sich aber nicht nur im Text selbst, sondern zum Teil bereits im Paratext, beispielsweise in der grafischen Gestaltung des Buches, ab.
Mister Orange ist für Linus eine absolute Entdeckung. Durch ihn hat er die Möglichkeit eine ihm völlig fremde, neue Welt kennenzulernen. Zu der gehört auch das Atelier des Malers:
Alle Wände waren weiß gestrichen. Weiße Wände! Nirgends Blümchentapeten. Kein Eichenholztisch mit dunkelroter Tischdecke. Nicht einmal ein Teppich auf dem Dielenboden. Kein Mahagonibüffet an der Wand wie bei Linus zu Hause. Wie bei allen zu Hause, die er kannte.
Und Mister Orange nimmt sich Zeit für Linus, er redet mit ihm. Über die Welt, über New York, über den Krieg, über die Zukunft – und über Kunst. Bisweilen nehmen ihre Gespräche fast schon philosophischen Charakter an. Etwa, wenn die beiden über den Wert von Fantasie streiten – vor allem Linus, der Angst um seinen Bruder Apke hat, stellt ihren Sinn in Anbetracht der brutalen Realität in Frage. Doch Mondrian vermag es, Linus ihre Bedeutung aufzuzeigen:
»Alles beginnt mit der Vorstellungskraft: Sie ist der erste Schritt zu allem was die Menschen je geschaffen haben […] Alles, was du um dich herum siehst hier in der Stadt, drinnen und draußen, alles, was du anfassen kannst, worauf du zeigen und was du festhalten kannst, alles, was du ˃echt˂ nennst, hat einmal als Idee im Kopf eines Menschen angefangen.«
Der Zufall will es, dass Linus so auch etwas über die Lebensgeschichte des Malers erfährt, ist er doch letztendlich der Tragweite von Fantasie, von Imagination wegen nach New York gekommen:
»Wenn Vorstellungskraft so ungefährlich wäre, wie du denkst«, sagte Mister Orange, »dann bräuchten die Nazis nicht so große Angst davor zu haben.«
Bei Linus zu Hause ist für solche Gespräche wenig Zeit, dafür ist der Alltag der insgesamt siebenköpfigen Familie viel zu turbulent. Für Linus sind sie vielleicht auch deswegen so besonders. So besonders, dass er sie wie einen Schatz hüten will:
Er hob eine Hand und lief die Treppe hinunter. Vorsichtig, weil sein Kopf sich so schwer anfühlte von allem, was er gesehen und gehört hatte. Er wollte die neuen Gedanken in seinem Kopf nicht durcheinanderbringen. Er wollte sie aufbewahren, damit er sie später wieder zum Vorschein holen und von allen Seiten betrachten konnte.
Sylvia Schwab vom Deutschlandfunk vergleicht Mattis Buch sehr treffend mit Mondrians abstrakter Kunst, sie findet, es ist »klar aufgebaut, knapp und lakonisch erzählt, in lebhaften, leuchtenden Farben, durch die sich schwarze Linien ziehen«, womit sie auf den Krieg im Hintergrund, die Sorge um den Bruder und den Tod eines befreundeten Soldaten anspielt. Im Gegensatz zu Mondrians Malerei sei es aber nicht abstrakt, sondern sehr sinnlich, man sehe, man höre, man rieche New York und das Leben dort förmlich[1].
Wir finden, dass man durch Mattis Roman den Künstler Piet Mondrian in den letzten Monaten seines Lebens[2] aus einer ungewöhnlichen, spannenden Perspektive kennenlernen kann. Aus der eines Jungen aus einfachen Verhältnissen, der nichts von der Popularität seines Gegenübers ahnt und ihm und seiner Kunst deshalb auf eine vollkommen natürliche und unvoreingenommene Art und Weise begegnet. Dass er bei seinen Besuchen quasi Zeuge der Entstehung von Mondrians letztem, unvollendet gebliebenem Werk »Victory Boogie Woogie« geworden ist, wird dem Jungen erst klar, als der Maler ihm im März 1945 von einem Ausstellungsplakat entgegenschmunzelt …
Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Gerstenberg Verlag: Hildesheim, 2013.
[2] Mondrian ist am 1. Februar 1944 an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben.