Sjón ist Isländer und schrieb mal Liedtexte für Björk. Eines dieser Lieder fand oscarnominiert Platz in Lars von Triers Film »Dancer in the Dark«. Das ist, was in den meisten Pressetexten über diesen Autor zu lesen ist. Island, Björk und Lars von Trier: eine flackernde Kombination. Das Interesse ist geweckt, es kribbelt unter den Fingernägeln. Aber braucht es diese Vorschusslorbeeren, um Sjóns »Der Junge, den es nicht gab« an den Leser zu bringen?

Island hat ja neben der Pop-Diva eine Handvoll weiterer Ausnahmetalente hervorgebracht, die international Anerkennung erhalten. Sigur Rós beispielsweise. Eine Band, die für Zuhörer außerhalb Islands in nahezu unverständlicher Sprache musiziert, und trotzdem die großen Hallen regelmäßig füllt. Ein Phänomen – wie  Björk eben. Und Sjón? Der kann locker mithalten.

Er schreibt nun also nicht ausschließlich Liedtexte für Björk, nein, sein bereits dritter Roman »Der Junge, den es nicht gab« erschien in deutscher Übersetzung im Frühjahr dieses Jahres. Die Lektüre wirft zwangsläufig die Frage auf, ob es sich die Kulturschaffenden auf Island bewusst zur Aufgabe machen, den Literaturbetrieb des westlichen Festlandes aufzubrechen. Zur Erinnerung: Die Kriminalromane des Isländers Arnaldur Indriðason sind mittlerweile Blaupausen für zahlreiche Autoren aus den nördlichen Ländern Europas. Und die so genannten Nord-Krimis werden sehr gut verkauft.

Statt den absatzstarken Krimi-Markt abzuschöpfen, geht Sjón jedoch einen anderen Weg, der wohl weniger Nachahmer finden wird, der aber überzeugt. Er bedient sich am Motiv des klassischen Außenseiters, den er in Großaufnahme präsentiert. Máni Steinn, der Junge, von dem niemand so recht Notiz nehmen will, ist Blickfang und Auge Sjóns zugleich. Durch dieses erlebt der Leser einen Abriss isländischer Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Der Junge ist distanziert, sozial ausgegrenzt und er ist Stricher. Einer, der seine Freier gekonnt um den Finger zu wickeln weiß und seine spärliche Lust am Kommunizieren in den Stummfilmen des frühen Kinos wiederfindet. Der Alltag zwischen Kino- und Freierbesuch gerät in den Strudel politischen Umbruchs und der Epidemie der Spanischen Grippe. Mit ihr fällt die Stille der Stummfilme plötzlich in den Straßen Reykjaviks ein. Die menschliche Zivilisation ist gefährdet, aber der Junge steht unerschrocken im Scheinwerferlicht: er findet Arbeit als Krankenfahrer und Leichentransporteur.

Eine Idee von Pip aus Charles Dickens »Große Erwartungen« schwingt schon mit, folgt man den Spuren des elternlosen Máni Steinns, der den Außenseiter-Stempel ein wenig zu offensichtlich tragen muss. Protegiert von einem Doktor in der Tradition Albert Camus‘, entgeht Máni dem Tod, nachdem seine Homosexualität fast einen ausufernden Konflikt zwischen Island und Dänemark nach sich trägt und zwischen Filmdrehbuch, historischer Bearbeitung und phantastischer Erzählung eine Verschmelzung entsteht, die ihre Berührungspunkte gekonnt verwischt.

Sjón erzählt in lyrischer Sprache die Geschichte einer Außenseiter-Figur, die es trotz des Hinweises im Romantitel mit Sicherheit gegeben hat und immer geben wird – gerade anhand seines Romans vergewissert sich Sjón deren Existenz, ja es scheint ihm ein Bedürfnis zu sein, eine solche Figur mit der Historie Islands zu verweben. Ihm gelingt es, einen Protagonisten zu projizieren, der zwischen filmreifen Arrangements ganz zu verschwinden droht, aber durch seine Individualität des Lesers Blick auf sich zieht und in ihm überdauert.

Sjón: Der Junge, den es nicht gab. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer: Frankfurt am Main 2015.

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