Wenige Tage nach ihrer Abschlussfeier starb die Yale-Absolventin Marina Keegan bei einem Autounfall. Sie wurde zweiundzwanzig Jahre alt. So weit das, was alle schreiben und was zu wiederholen ein gewisses Unbehagen bereitet. Ein Unbehagen nicht aufgrund der unzweifelhaften Tragik der Ereignisse, sondern aufgrund ihrer vehementen Zurschaustellung. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass dem Verlag und manchen Medien offenbar mehr daran gelegen ist, den Tod der Autorin als deren Texte zu vermarkten. Dass es eher um Betroffenheit und Voyeurismus geht als um Literatur. Aber kann das verwundern? Und soll man Marina Keegans frühen und plötzliche Tod stattdessen in einem Nebensatz abhandeln oder gar verschweigen? Denn schließlich ist »Das Gegenteil von Einsamkeit«, dieser postum veröffentlichte Band mit Stories und Essays, ihr Vermächtnis − warum ihn also nicht auch als solches lesen?
Marina Keegan ist − wie kürzlich eine Rezensentin in der »Welt« treffend zusammenfasste − »sehr jung, sehr hoffnungsvoll und sehr, sehr tot«. Und junge, tote Frauen verkaufen sich nunmal besser als alte Männer, die sich relativ guter Gesundheit erfreuen. Traurig, aber wahr: That’s business − moralische Bedenken ziehen gegen die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie den Kürzeren. Bleibt die Frage: Ist »Das Gegenteil von Einsamkeit« ein gelungenes Buch und somit wirklich ein Nachlass, den man sich als Literat wünschen kann? Oder täuscht nicht am Ende das ganze Aufheben nur darüber hinweg, dass das »Ausnahmetalent« und »Wunder« Marina Keegan eine Reihe mittelmäßiger Texte hinterlassen hat?
So schlimm ist es glücklicherweise nicht. »Das Gegenteil von Einsamkeit» ist streckenweise sogar ein ziemlich gutes Buch. Ein Ärgernis ist hingegen jener Text, dem es seinen Titel verdankt, Marina Keegans Abschlussrede in Yale. »Das Gegenteil von Einsamkeit« (der Text, nicht das Buch), aus bestimmten Gründen (früher und plötzlicher Tod, wir erinnern uns) offenbar eine Sensation im Netz, zeugt von einer Banalität und Naivität, dass es schmerzt. Und der Gedanke kommt nicht von ungefähr, man habe es hier mit einer amerikanischen Julia Engelmann zu tun: »Wir sind so jung. Wir sind so jung.« Und weil sie alle »so jung« sind − und nicht etwa, weil sie aus wohlhabenden und privilegierten Elternhäusern kommen und an einer Eliteuniversität studiert haben − haben sie auch so viele Möglichkeiten. Zum Beispiel »ein Masterstudium machen« oder »es mit dem Schreiben probieren«. Kurzum: »Die besten Jahre unseres Leben liegen nicht hinter uns.« Trotzdem ist da ja noch diese ominöse Angst, vor allem die Angst vor der Einsamkeit, denn die »macht mir mehr Angst als nicht den richtigen Job, die richtige Stadt, den richtigen Mann zu finden«. Doch zum Glück »ziehen alle an einem Strang«, und deshalb herrscht auf dem Campus eben das »Gegenteil von Einsamkeit«. Oh weh.
Entschuldigung, aber soll dieser Text in seiner intellektuellen Beschränktheit und mit all seinen Plattitüden und seinem naiven Optimismus tatsächlich die geistige Reife, das Reflexionsniveau und das Lebensgefühl junger College-Studenten abbilden? Man will es nicht hoffen. Immerhin, liest man im Anschluss die Stories, kommen schnell die ersten Zweifel auf. Auch hier sind Angst und Unsicherheit allgegenwärtig − doch bleiben sie nicht bloß Behauptung. Was macht den Unterscheid? Wieder bildet das College den Rahmen, allzu häufig geht es ums Zwischenmenschliche, um Beziehungen und Familie. Der Horizont reicht selten weiter als bis zur eigenen Tapete, und müßig ist die Frage nach dem autobiographischen Gehalt, denn es ist größtenteils ihre Welt, die Welt ihrer Freunde und Kommilitonen, die Marina Keegan hier in allen Farben ausmalt. Aber die Konflikte und emotionalen Kollisionen sind für den Leser nachvollziehbar, nicht zuletzt aufgrund der ihnen innewohnenden Dynamik. Nahezu jeder Hoffnung folgt irgendwann die Enttäuschung, jedem Glück das Unglück oder umgekehrt − es ist nur eine Frage der Zeit. Und Marina Keegan schildert dieses Wechselspiel in einer klaren, direkten Sprache, die ihre Wirkung nicht verfehlt. »Aber während er mich anlächelte und den Reißverschluss an seiner Jacke zuzog«, heißt es an einer Stelle, «sah ich, wie eine Welt sich aufbaute und dann wieder in sich zusammenfiel«.
Dass Marina Keegan dem zwangsoptimistischen »Du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-nur-willst«-Stuss nicht recht traut, zeigt sich auch in ihren Essays. Da thematisiert sie Fragen wie die, warum wir Wale retten, aber Menschen verhungern lassen, und wieso junge Menschen, die offenbar weder total verblödet noch moralisch verkommen sind, bei Banken und Hedgefonds anheuern. Eine mitfühlende, aber unsentimentale Reportage über einen Kammerjäger gerät zu einer gelungenen Mischung aus Psychogramm und Milieustudie. Doch am stärksten sind auch hier die persönlicheren Texte, etwa, wenn Marina Keegan von ihrer Zöliakie schreibt und davon, wie sehr sie es hasst, deswegen von ihrer Mutter umsorgt zu werden. Subtil kontrastiert wird diese Ablehnung mit den nachvollziehbaren Sorgen und Schuldgefühlen der Mutter − und plötzlich ist die Verteilung von Richtig und Falsch nicht mehr so klar und eindeutig, wie es anfangs scheinte.
Überhaupt laufen die Stories und Essays immer dann zur Hochform auf, wenn sie die Widersprüche und Risse im Seelenleben der Figuren wie im Gefüge ihrer Umwelt offenlegen. Und mit zunehmendem Verlauf gelingt ihnen das immer besser. Der letzte Essay des Bandes erzählt von Marina Keegans Eifersucht und Neid, von dem Gefühl, immer zu spät zu kommen und immer hinter den eigenen Erwartungen zurück zu bleiben. Hier zeigt sich ein überaus kluger und sensibler junger Mensch, der sich der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten durchaus bewusst ist, sich von ihnen aber gleichwohl nicht einschüchtern lässt. Der auch ein Sensorium für die äußeren Schranken und Hindernissen entwickelt hat, die unseren Wünschen und Träumen im Weg stehen − Abschuss einer Eliteuniversität hin oder her. »Im Älterwerden«, schreibt Marina Keegan, »sehe ich die Möglichkeiten in den Schaukästen der vierten Klasse verblassen: Es ist zu spät für eine Laufbahn als Arzt, für die Hauptrolle in einem Film, für die Kandidatur als Präsident. Die Chance, dass ich nie etwas schaffe, ist ziemlich groß. Der Gedanke ist egoistisch und selbstbezogen, aber er macht mir Angst.« Diese Sätze klingen nicht nur bitterer als die »Wir sind so jung, wir haben noch so viel Zeit«-Floskeln, sondern auch wahrer. Sie stimmen nachdenklich und mitunter melancholisch, auch − aber nicht nur − wenn man an Marina Keegan und ihr frühes Ende denkt.
Marina Keegan: Das Gegenteil von Einsamkeit. Stories und Essays. Aus dem Amerikanischen von Birgitte Jakobeit. S. Fischer: Frankfurt am Main 2015.