Wenige Tage nach ihrer Abschlussfeier starb die Yale-Absolventin Marina Keegan bei einem Autounfall. Sie wurde zweiundzwanzig Jahre alt. So weit das, was alle schreiben und was zu wiederholen ein gewisses Unbehagen bereitet. Ein Unbehagen nicht aufgrund der unzweifelhaften Tragik der Ereignisse, sondern aufgrund ihrer vehementen Zurschaustellung. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass dem Verlag und manchen Medien offenbar mehr daran gelegen ist, den Tod der Autorin als deren Texte zu vermarkten. Dass es eher um Betroffenheit und Voyeurismus geht als um Literatur. Aber kann das verwundern? Und soll man Marina Keegans frühen und plötzliche Tod stattdessen in einem Nebensatz abhandeln oder gar verschweigen? Denn schließlich ist »Das Gegenteil von Einsamkeit«, dieser postum veröffentlichte Band mit Stories und Essays, ihr Vermächtnis − warum ihn also nicht auch als solches lesen? Weiterlesen
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Der Tiger, der Torte mag
Jonas und Philip, genannt Nase und Lippe, staunen nicht schlecht, als sie bei einem Streifzug durch die örtliche Kanalisation einen Tiger, garniert mit Essenresten, Klopapier und Ähnlichem, aus dem Abwasser fischen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen gewöhnlichen Tiger, sondern um einen der sprechen kann und von sich behauptet, eine alte Dame aus der Nachbarschaft zu sein:
»Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«
Genauso selbstverständlich wie die Raubkatze dies behauptet, beschließen die beiden elfjährigen Protagonisten in Kilian Leypolds Roman »Der Tiger unter der Stadt«, sich um den Tiger, pardon, um Frau Ohm, zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ausgewachsenen sibirischen Tiger handelt, der der größte seiner Art ist. Ihre anfänglichen Berührungsängste vor dem mächtigen Tier erweisen sich allerdings schnell als unbegründet:
»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger.
»Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.
»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in die Sonne.
Während Tante Tiger – so nennen Philip und Jonas die alte Dame im Tigerkörper – anfangs noch nach altersgerechtem Essen und ihren zahlreichen Medikamenten verlangt, merkt sie nach und nach, dass ihr neuer Körper andere Dinge braucht – etwa rohes Fleisch statt Torte. Und sie spürt, dass sie Manches, zum Beispiel ihre Medikamente, gar nicht mehr benötigt.
» […] die Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als Letztes der Kopfschmerz.«
Der Wegfall der physischen Beschwerden ist nur ein Vorzug ihres neuen Körpers. Im Gespräch mit Jonas und Philip wird ihr klar, dass er auch ein neues Lebensgefühl mit sich bringt. Ein Lebensgefühl, das nicht mehr von Angst, Einsamkeit und Traurigkeit dominiert ist:
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut es tut, keine Angst mehr zu haben.«
»Wovor hatten Sie denn Angst?«, fragte Lippe.
»Vor Treppen. Dass ich sie nicht mehr hinaufkomme oder hinunterpurzle. Überhaupt zu stürzen, in meiner Wohnung hilflos am Boden zu liegen und nicht mehr ans Telefon zu kommen. Angst, keine Dose und kein Einmachglas mehr aufzubekommen, und dann, wenn man zu nichts mehr Kraft hat … vor dem Ende.«
Kilian Leypold ist es mit seinem ungewöhnlichen Roman gelungen, auf amüsante, einfühlsame und intelligent Art und Weise von dem Miteinander von Jung und Alt und dem Altwerden und Altsein überhaupt zu erzählen. Und das tut er kein bisschen schulmeisterlich, sein Roman erinnert vielmehr an ein modernes Großstadtmärchen.
Die entscheidende, omnipräsente Frage, die es vermag, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist: Wie konnte Kunigunde Ohm in den Körper des Tigers gelangen? Doch das verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht. Wir empfehlen: Roman kaufen und nachlesen. Es lohnt sich.
Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau Verlag: Berlin 2010.