Aus der Sparte first world problems: Es ist noch nicht lange her, da war zu lesen, dass die ehemals coolste und hippste Stadt Deutschlands, Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt, ihre Coolness und Hippness verloren habe. Wo früher David Bowie und Iggy Pop das Nachtleben unsicher machten, wo der Underground florierte und neue Trends und Moden entstanden, wo Rave und Techno ihre größten Erfolge feierten, habe sich eine arrogante und überhebliche Selbstgefälligkeit breitgemacht. Im Gefühl der eigenen Überlegenheit blicke der Berliner heute voll Abscheu hinab auf die durch Bars und Clubs pilgernden Touristenhorden, während ein Bezirk nach dem nächsten gehörig durchgentrifiziert werde und die Stadt nach und nach noch den letzten Rest an Charakter und Charme verliere. Am Ende einer Debatte, die, ausgelöst durch einen Beitrag im amerikanischen »Rolling Stone« und befeuert vom Internet-Portal »Gawker«, vor allem in den deutschen Medien geführt wurde, kamen selbst manche Berliner nicht umhin einzugestehen: Berlin is over.
Den italienischen Philosophen Francesco Masci dürfte Berlins absurdes Auf und Ab auf der Beliebtheitsskala in seiner Ansicht nur weiter bestätigen. Ist der Hype um das Ende vom Hype nicht ein Symptom jener Berliner Zustände, die er so wortmächtig kritisiert? In seinem Essay »Die Ordnung herrscht in Berlin« beklagt er, dass die ehemalige Mauerstadt von einem Ort historischer Bedeutung zur »Welthauptstadt der Folklore« herabgesunken sei, wo »angelockt aus einer undefinierbaren Korona aus Kreativität, niedrigen Mieten und moderaten Bierpreisen« die Massen der »Fiktion des autonomen Individuums« verfallen seien. Sie zelebrierten eine illusionäre Freiheit, die aus der Flucht vor der Wirklichkeit politischer Kämpfe resultiere und somit »in den Dienst der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung« getreten sei. Denn die Politik sei aus dem Raum dieser Stadt längst verdrängt worden und habe einer »absoluten Kultur« den Platz bereitet. Was bleibt, so Masci, ist Entertainment, das sich mitunter den perfiden Anschein von Widerständigkeit verleiht.
Als Zeichen seiner tiefsten Erniedrigung wurde Berlin in seiner Kapitulation die Loveparade aufgezwungen.
Mascis Kritik an den postpolitischen Berliner Zuständen mag in ihrer Stoßrichtung nicht besonders originell sein, doch ist sie in ihrem sprachlichen Furor allemal erfrischend. Wenn er die alljährlichen Krawalle am 1. Mai als »neuen politisch verkleideten Karneval für angeheiterte Subjektivitäten« bezeichnet, trifft das den Nagel leider auf den Kopf. Und Anerkennung verdient auch, wie souverän sich Masci bei seinen Vorgängern bedient, ohne sie bloß zu kopieren. Seine Diagnose der neuen Gesellschaft des Spektakels evoziert Denkfiguren einer konservativen Kulturkritik, die er zugleich wiederum kritisiert und denen er »Heuchelei« vorwirft. Seine Gewährsmänner heißen Carl Schmitt, Ernst Jünger und François Furet. Mit Schmitt begreift Masci die Freund-Feind-Unterscheidung als konstitutiv für den Begriff des Politischen, freilich ohne mit Mario Tronti die marxistische Wendung zum Klassenkampf zu vollziehen.
Auf Schmitt gehen ebenso die Begriffe der »Ordnung« und des »Nomos« zurück, die Masci aufgreift, wenn er Berlin als »Raum ohne Territorium« beschreibt. In »Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum« von 1950 beschreibt Schmitt den »Nomos« als »Einheit von Ortung und Ordnung«. Doch hat die »Ordnung« noch eine weitere Ahnenlinie. »Die Ordnung herrscht in Berlin« ist auch der Titel des letzten Aufsatzes von Rosa Luxemburg, der einen Tag vor ihrer Ermordung am 14. Januar 1919 in der »Roten Fahne« erschien. Darin konstatiert die Revolutionärin den bitteren Verrat der Sozialdemokraten an der Arbeiterklasse und die Restauration der bürgerlichen Ordnung. Mascis Pointe besteht nun darin, dass er Luxemburgs Befund aktualisiert. Erst heute herrsche tatsächlich Ordnung, doch sei diese Ordnung von einer ganz anderen Art. Sie beruhe »auf minimalem Einsatz von Gewalt« und sei »doch nicht weniger zwingend und erbarmungslos als die von Rosa Luxemburg bekämpfte«.
Am Ende bleibt die Frage, ob Mascis Kritik nicht viel weiter gehen müsste, ob sein Blick auf die Bundeshauptstadt nicht allzu verengt ist. Berlin sei »kein Symbol«, schreibt Masci, sondern der »sehr reale Ort«, an welchem die Moderne durch »die Austreibung der Politik durch das dreiköpfige Monster der Moral, Ästhetik und Ökonomie« an ihr Ende gelangt sei. Damit steht Berlin aber eben doch pars pro toto für eine Entwicklung, die längst nicht nur eine einzelne Stadt erfasst hat. Immerhin, in Berlin liegt man wieder voll im Trend.
Francesco Masci: Die Ordnung herrscht in Berlin. Matthes & Seitz: Berlin 2014.