Großbritannien im Jahr 2071: In London grassiert ein Nano-Virus, der unschuldige junge Mädchen in vampireske Cyborgs verwandelt, so genannte »Puppen«, deren Reizen die Männer reihum verfallen. »Puppen-Junkies« lautet die abfällige Bezeichnung für jene »Verräter an der Rasse«, die sich mit den »toten Mädchen« einlassen und den Virus dadurch weiter verbreiten. Aus Angst um den Fortbestand der Spezies Mensch formiert sich eine fanatische »Reinheitsfront«, die schon bald von der unter Zwang angewandten »medizinischen Behandlung« der »toten Mädchen« zum eiskalt geplanten und ausgeführten Mord übergeht. Doch es regt sich Widerstand, denn die »Puppen« wollen sich dem grausamen Schicksal, dass die Menschen ihnen zugedacht haben, nicht kampflos ergeben, zumal ihre Verwandlung sie mit enormen Kräften und übermenschlichen Fähigkeiten ausstattet. Eine hungrige Vagina dentata ist da noch die geringste Gefahr für die vornehmlich männliche Menschenwelt.

Mittendrin in diesem düster apokalyptischen Szenario, das Richard Calders nun erstmals auf Deutsch vorliegender Roman »Tote Mädchen« entwirft, steckt das Teenagerpaar Ignatz und Primavera – er ein »Junkie« und sie eine jener künstlichen Lebensformen ohne »echte« Empfindungen und Gefühle und doch um so vieles menschlicher als manch ein Vertreter jener Gattung, die dem Begriff einst seinen Namen gab. Weil Ignatz und Primavera aber nicht Opfer sein wollen, entschließen sie sich zur Flucht. Es verschlägt sie in das »pornokratische« Bangkok, wo sie in die Dienste der ruchlosen Oligarchin Madame Kito treten. Bis die Handlung des Romans einsetzt fristet Primavera fortan ihr Dasein als Auftragskillerin, Ignatz als ihr treuer Freund, Begleiter und Liebhaber. Vielleicht ist das am erstaunlichsten – dass es im Kern eine romantische Liebesgeschichte ist, die dieser an seiner Oberfläche vor Morbidität und Perversion nur so triefende Roman erzählt, eine anachronistische Fabel aus »Zeiten, als Liebe und Pornographie noch voneinander zu unterscheiden gewesen waren«.

Liebe – geht es also einmal mehr nur um menschliches, allzumenschliches? Ja und nein. Vor allem handelt »Tote Mädchen« von den Grenzen des Menschseins, vom definitiven Ende der Moral, wie wir sie kennen, und vom möglichen Ende der Spezies. Die düstere Vision einer Menschheit, die um ihr Überleben kämpft, und dabei ihre Menschlichkeit aufs Spiel setzt, ist deutlich von den Vorläufern des Cyperpunk wie Philip K. Dicks »Do Androids Dream of Electric Sheep?«, der Vorlage für Ridley Scotts »Blade Runner«, und Klassikern des Genres wie William Gibsons »Neuromancer«-Trilogie geprägt, denkt diese Vorbilder aber konsequent weiter und radikalisiert sie. Schließlich muss sich Calder aber auch stilistisch und erzählerisch nicht hinter den genannten Größen verstecken. Die Sprache des Romans ist plastisch und bildhaft, gespickt mit Metaphern, mitunter fast schon lyrisch, ohne dabei jemals bemüht oder aufgesetzt zu wirken. Hingegen besteht die erzählerische Rafinesse in den zahlreichen Analepsen. Die Gegenwart wird immer wieder durchbrochen von Eindrücken der Vergangenheit, wodurch der Leser nicht nur sukzessive mehr von Ignatz und Primaveras Flucht aus London erfährt, sondern auch über den Ursprung der »Seuche« aufgeklärt wird. Vielleicht ist das, also der Grund, wieso junge Mädchen sich in bluttrinkende »Puppen» verwandeln, die bitterste Pille, die der Leser von »Tote Mädchen« schlucken muss. Es ist aber sicher nicht die einzige.

Richard Calder wurde 1956 in London geboren und  veröffentlichte zahlreiche Science-Fiction-Erzählungen und -Romane. Die Originalausgabe von »Tote Mädchen« – »Dead Girls« – erschien bereits 1992 und wuchs mit »Dead Boys« und »Dead Things« unlängst zur Trilogie an. Dass der Roman nun auch auf Deutsch zugänglich ist, verdankt sich der im vergangenen Jahr ins Leben gerufenen, von Dietmar Dath herausgegebenen Reihe »New Gothic« im Berliner Suhrkamp Verlag. »Tote Mädchen« ist der dritte Band, zuvor erschienen bereits »Mund voll Zungen« von Paul Di Filippo und Michael Maranos »Dawn Song«. 

Richard Calder: Tote Mädchen. Mit einem Vorwort von Dietmar Dath. Suhrkamp: Berlin 2012 (New Gothic 3).

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.