Im vergangenen Jahr veröffentlichte Jan Brandt seinen 900 Seiten umfassenden Debüt-Roman »Gegen die Welt« und wurde damit sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman erzählt von der Bürde der Jugend, er erzählt vom Scheitern und existentieller Langeweile: eine grandiose Kapitulation.

Der Autor im Interview über Hiob, Anakin Skywalker und die Abgründe der Menschheit.

 

Lieber Jan Brandt, was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Ein Roman kann niemals wahr sein, höchstens wahrhaftig oder wahrscheinlich.

Immer wieder tauchen religiöse Motive in Ihrem Roman auf. Obwohl niemals moralisierend, so entsteht doch der Eindruck, dass die religiöse Versiertheit in Jericho stellvertretend für eine Sehnsucht nach allgemeingültigen Werten und Führung steht. Kann Religion diesem Verlangen noch gerecht werden?

Religion stillt die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Jede Religion hat einen Ursprungsmythos, der auch nach Jahrhunderten noch seine Wirkung entfaltet. Diese Texte sind machtvoll, trostspendend und zerstörerisch zugleich. Die Geschichte der Menschheit zeigt, welche Energien solche Fiktionen freisetzen können. Und darum geht es in »Gegen die Welt« mehr als um alles andere: um Geschichten und deren Interpretationen, um die Suche nach einer Wahrheit im Dickicht sich widersprechender Erzählungen.

Ist »Gegen die Welt« ein Roman über das Theodizee-Problem?

Das Theodizee-Problem behandelt die Frage: Wenn Gott gut und allmächtig ist, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Wie kann Gott es zulassen, dass die gläubigen, rechtschaffenden Menschen, die Krone seiner Schöpfung, leiden? Man kann die Geschichte von Daniel Kuper als Parabel lesen, als einen Wiedergänger Hiobs, dem immerzu Böses wiederfährt und der doch nicht seinen Glauben verliert. Aber im Gegensatz zu Hiob verliert Daniel Kuper seinen Glauben, an die Gesellschaft, die Gerechtigkeit, das Glück.

Volker, ein vermeintlicher Nebencharakter, entwickelt schon in seiner frühen Jugend eine außergewöhnliche Faszination für den christlichen Glauben. Er wird später die neutestamentarische Position des Judas einnehmen. Was ist das Faszinierende an den Schattenseiten des Christentums?

Es sind ja nicht die Schattenseiten allein. Die Bibel ist voller Brutalität: Brudermorde, Erdbeben, Feuersbrünste, Sintfluten, Hungersnöte, Kindesschlachtungen, Folter, Hinrichtungen – ein kollektiver Splatterroman. Aber sie ist auch voller Liebe und Mitgefühl, Hilfsbreitschaft und Vergebung. Aus diesem Dualismus entsteht eine ungeheure Kraft. Der Konflikt, der daraus resultiert, ist faszinierend, nicht nur die helle oder dunkle Seite der Macht, die Verwandlung von Judas vom Jünger zum Verräter oder – um einen anderen mächtigen Mythos zu zitieren – von Anakin Skywalker zu Darth Vader.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine große Rolle. Weshalb wird er von den Menschen kaum thematisiert, kaum beachtet?

Das hat mich auch gewundert, kein Kritiker hat sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt. Vielleicht liegt es daran, dass der Tod in der Literatur allgegenwärtig ist, dass viele Romane vom Sterben handeln, vom Untergang eines Menschen, einer Familie, einer Gesellschaft. Und vielleicht zeigt das auch die Grenzen der Fiktion auf: Vielleicht bedarf Fiktion einer Verankerung in der Wirklichkeit, um volle Anerkennung beanspruchen zu können. Hätte ich mich unmittelbar vor oder nach Erscheinen meines Romans umgebracht, hätten sich die Exegeten auf das Selbstmord-Motiv gestürzt und es als Schlüssel für mein Leben und Sterben gedeutet.

Einige der auftretenden Jugendlichen sind besessen von Heavy Metal. Mittlerweile ist diese Musik hauptsächlich in ländlichen Gebieten von großer Bedeutung. Können Bands wie Judas Priest, Iron Maiden und Saxon noch als Vehikel für die Wut und die Angst junger Menschen dienen?

In der Provinz diente Musik immer schon zur Distinktion, stärker als in der Großstadt, das Potenzial mit Aussehen und abseitigem Musikgeschmack Aufmerksamkeit zu erregen, ist dort einfach höher. Mag sein, dass Heavy Metal auch immer ein Ventil war und ist, um Aggression abzulassen. Dann hätte die Musik aber nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, die dazu dient, Widerstand zu kanalisieren und den status quo aufrechtzuhalten. In »Gegen die Welt« ist Heavy Metal eine Art Ersatzreligion, das Gegenstück zum Christentum, dem sich die Jugendlichen aus Protest über die Diktatur der Angepassten verschreiben. Diese Haltung ist in ihrer Ausschließlichkeit auch reaktionär. Ein Teufelskreis.

Roberto Bolaños Roman »2666« thematisiert ebenso die Abgründe der Menschlichkeit, wie eben auch »Gegen die Welt«. Jedoch spielt sich der Roman Bolaños nicht nur in einer Stadt, oder in einem Land ab. Schreckensszenarien findet man in jedem Winkel der Welt. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, »Gegen die Welt« ausschließlich in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands handeln zu lassen?

In meinem Buch heißt es: »Das Dorf war überall.« Die Geschichte Daniel Kupers, die Geschichte vom Verschwinden des Dorfes ist universal und könnte so oder so ähnlich überall auf der Welt spielen, auch wenn die sozialen Umstände dort, wo immer das dann ist, andere sind. »2666« ist dagegen tatsächlich global, von Anfang an Zeit und Welt umspannend, und doch scheinen beide Romane eine gemeinsame Botschaft zu haben: dass es kein Entkommen gibt, dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun. Bei Bolaño allerdings sehr viel tiefere und furchtbarere als bei mir.

Verstehen Sie »Gegen die Welt« als Schlüsselroman?

Nein. Es gibt – abgesehen von einigen Dorfgeschichten, autobiografischen Erlebnissen, zeitgeschichtlichem Material und topografischen Rahmenbedingungen – keinen Bezug zur Wirklichkeit.

Der Film »Das weiße Band« zeichnet eine ebensolche bedrohliche Atmosphäre aus, wie sie auch in Ihrem Roman allgegenwärtig ist. Im Gegensatz zu Ihrem Roman wird im Film allerdings dem Zuschauer am Ende überlassen, das Geschehen moralisch zu werten. Die Kamera harrt am Altar aus, der Pfarrer setzt sich zu seiner Gemeinde auf die Kirchenbank. Warum führen Sie den Leser Ihres Buches nicht ebenso?   

Ich liefere am Ende auch keine Moral, ich knüpfe nicht einmal alle losen Fäden zusammen. Ich habe bewusst Leerstellen gelassen, weil es auch im wirklichen Leben nicht auf alle Fragen Antworten gibt, und man das auch nicht von einem Gesellschaftsroman erwarten kann. Ich mag keine Bücher, die mir die Welt erklären, das ist keine Literatur, sondern Propaganda.

Kann man dem Erzähler Ihres Romans »Gegen die Welt« Glauben schenken? Oder ist auch er so unaufrichtig, so manipulierend wie die meisten der auftretenden Personen?

Er ist so vertrauenswürdig wie jeder andere auch. Glauben Sie mir. Ich kenne ihn besser als er sich selbst.

Die Band Tocotronic singt in ihrem Lied »Kapitulation«: »Alle, die die Liebe suchen, sie müssen kapitulieren.« Dies trifft in besonderem Maße auch auf den Protagonisten Daniel Kuper zu. Kann man dem Scheitern etwas Positives abgewinnen?

Offenbar schon, sonst gäbe es weniger Texte, die genau davon handeln, ob Songs, Gedichte oder Erzählungen und Romane.

Jan Brandt wurde 1974 im ostfriesischen Leer geboren. Sein Debüt-Roman »Gegen die Welt« wurde im August 2011 im Dumont Buchverlag veröffentlicht.  

Der Debütroman »Gegen die Welt« von Jan Brandt erzählt die Geschichte des Antihelden Daniel Kuper, der im Sturmlauf gegen ein Dorf anrennt, das in einem der Höllenkreise Dantes seine Entsprechung finden könnte.
Doch ist das Dorf Jericho, in dem sich die Rahmenhandlung des über 900 Seiten starken Buches abspielt, ein klarer Verweis auf jenes Jericho, das im Buch Josua von den Israeliten eingenommen und zerstört wird. Das biblische Jericho also sinnstiftend für das fiktive nordfriesische Jericho. Doch statt dem Einsturz der Stadtmauern wird hier der Sturz eines jungen Menschen evoziert und das nicht etwa von einer feindlichen Invasion, sondern von der Familie, der Stadtgemeinschaft, vom direkten Umfeld. Daniel Kuper bricht an der Selbstsucht, am Unvermögen, an der Dummheit seiner unmittelbaren Umgebung.
»Gegen die Welt« ist eine moderne Hiob-Geschichte. Doch kennt sie kein glückliches Ende.

»Gott wird dich nicht so einfach gehen lassen«, brüllte er, mit der Linken hielt er Daniel am Kragen fest, mit der Rechten ohrfeigte er ihn noch einmal. »Nicht, bis du Buße getan und ihn um Vergebung gebeten hast.«

Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, eine jener nordfriesischen Städte, auf deren Koordinaten dieses fiktive Jericho gepflanzt wurde. In Anlehnung an Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, das in einem Dorf namens Jerichow spielt, entwickelt Brandt eine Welt voller Niedertracht und Leugnung, Versagensängsten, Verzweiflung und Wut.

Virtuos spielt Brandt mit typografischen Elementen, mit Perspektiven und Erzählfiguren. Diese Stilmittel sind essentiell für die Geschichte, für den Leser. Manchmal rauscht dieser atemlos durch den Roman. Manchmal stockt die Erzählung, weil der geschilderte Ausschnitt aufs Äußerste gespannt wird. So etwa die Schilderung des Todes eines Mitschülers von Daniel Kuper. Der Roman teilt sich hier auf, in oben und unten. Oben wird die Geschichte überspannter Jugendlicher erzählt, die in ihrer Langeweile zergehen, an den unsichtbaren Stadtmauern Jerichos verzweifeln und ihre einhergehende Wut, ihren unaussprechlichen Frust aufeinander projizieren. Unten, da wird die Geschichte des Lokführers erzählt, der den Jungen bald überfahren wird.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine zentrale Rolle. Alle begegnen sie ihm. Immer wieder. Doch wird er niemals in Frage gestellt, niemals thematisiert. Nur Daniel Kuper scheint die Schuldfrage zu stellen. Doch gibt es für die Bürger Jerichos nur einen Makel: den Protagonisten. Ob nun der Dorfpfarrer den Jugendlichen verprügelt, der Chefredakteur der Lokalnachrichten den Praktikanten verstummen lässt oder sich der Vater illoyal seinem Sohn gegenüber verhält – immer wieder ist es Daniel, der für die Schwächen und Fehlbarkeiten der vermeintlich Stärkeren büßen muss. Wenn sie auch nicht viel gemein haben, so vereint in diesem Dorf doch Niedertracht alle auftretenden Personen.

Jan Brandt (© Dumont Buchverlag)

Schon bald stellt der Leser fest, dass die hierarchische Struktur dieser Gemeinde nicht aufgebrochen werden kann. Der angehende Bürgermeister zitiert bei einer beängstigenden Wahlkampfveranstaltung unverhohlen Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Daniel Kuper erkennt dies, stellt jedoch bald fest, dass die Einwohner Jerichos kein Interesse an seiner Erkenntnis haben. Sie registrieren nur das, was sie registrieren wollen. Moral spielt für sie keine Rolle, Treue und Aufrichtigkeit auch nicht.

Von da an war Daniel der Spinner. Alle behaupteten, er behauptete, von Außerirdischen entführt und im Mais wieder abgesetzt worden zu sein. Dabei war er unfähig, über das, was tatsächlich passiert war, zu sprechen.

So kann „Gegen die Welt“ als ein Generationenroman gelesen werden. Als eine Bestandsaufnahme von Befindlichkeiten der Menschen, die in den tiefen 70ern irgendwo in Deutschland aufgewachsen sind. Niemals pathetisch, aber immer detailfreudig erzählt Brandt von einem dumpfen Landleben, von Isolation und Wut, sodass dies auch die Geschichte eines Großstadtlebens sein könnte. Der Autor lässt offen, ob es sich hierbei um einen Schlüsselroman handelt. Doch ist sein Erzähler so unzuverlässig, dass die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem, Erdachtem und Verhandelbarem irgendwo zwischen Science Fiction, Heavy Metal und Theologie-Exzessen verschwimmt.

»Gegen die Welt« ist eine grandiose Kapitulation, ein Manifest des Scheiterns. Dieser Roman kennt viele Wahrheiten, jede Perspektive hat seine eigene, doch ist keine zur Vollständigkeit verpflichtet.
Am Ende gleicht die Geschichte einem Trümmerhaufen. Wracks, Ruinen, Schutt – es sind bloß Menschen.

Jan Brandt: »Gegen die Welt«. Dumont Buchverlag: Köln 2011.
Jan Brandt im Interview.