Das Grauen kommt leise, behutsam, mit Fotografien und zarten Sätzen, ein Tasten in Erinnerungen – und am Ende steht die Selbstauslöschung. W. G. Sebalds Erzählsammlung »Die Ausgewanderten« wurde erstmals 1992 veröffentlicht und wirbelte viel Staub auf. Wie kein zweiter Autor spürte Sebald in seinen Werken die »Schmerzenspuren der Geschichte« auf, die Verbrechen an der Menschlichkeit. Und er klagte im Jahre 1997 in einem wellenschlagenden Essay an, dass die Kriegstraumata und die Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs bisweilen ungenügend literarisch dargestellt wurden.
In seinem zentralen Werk »Die Ausgewanderten« erzählt Sebald von vier Männern europäischer Herkunft, die allesamt durch grausame Barbarei aus ihrer Heimat vertrieben wurden, die auswandern mussten. Der Ich-Erzähler dieser vier Erzählungen legt die Biografie dieser traumatisierten Männer frei, geht auf Spurensuche, liest in Tagebüchern.
Dabei entsteht ein geisterhaftes, poetisches Bildnis, das den Weg der Protagonisten in die Vereinsamung freilegt. Die Protagonisten finden sich nach ihrer Flucht, nach ihrer Reise in Jerusalem wieder, in der Schweiz, in England oder New York. Im Alter zerbrechen sie an ihrer Verzweiflung und Heimatlosigkeit und gehen freiwillig in den Tod, in die Selbstauslöschung. Sebald vermischt dabei fiktive Geschichten mit autobiografischen Anekdoten und webt Fotografien in seine Erzählungen ein. So entstehen flirrende Berichte, die den Leser staunend, atemlos und vor allem fassungslos zurücklassen.
Da wird etwa vom schwermütigen Arzt Dr. Henry Selwyn erzählt, der in einer alten Landvilla lebt, deren Garten er gewissenhaft pflegt. Selwyn wanderte als Junge im Jahre 1899 aus Litauen nach London aus und konnte zeit seines Lebens die Sehnsucht nach seiner Heimat niemals überwinden. Die Gärtnerei, so wird bald klar, ist für ihn die einzige Chance Haltung zu bewahren, nicht abzudriften, Struktur zu gewinnen, Form zu erzwingen. Am Ende greift er doch zum Jagdgewehr und setzt seinem Leben ein Ende.
Eine andere Geschichte berichtet von Sebalds Grundschullehrer Paul Bereyter, der 1935 aus dem Schuldienst entfernt und dessen jüdische Geliebte von den Nazis ermordet wird. Bereyter verharrt in einer Schockstarre und irrlichtert durch sein Leben, bis ihn seine Wege auf die Bahngleise führen. Mit feinen Strichen und großer poetischer Kraft zeichnet hier Sebald das Schicksal des Lehrers nach und blickt dabei in einen Abgrund, den man nur mit Hilfe der Literatur aushalten kann.
Susan Sontag, die stilsichere Essayistin, sagte einmal über diese Erzählsammlung: »Ich kenne kein Buch, das mehr über das komplexe Schicksal vermittelt, ein Europäer am Ende er europäischen Zivilisation gewesen zu sein.« Es ist ein Erinnerungsbuch an jene Toten, für die es in der Welt keinen rechten Platz gab. Es sind die Geschichten der Vergessenen, die Sebald in diesen Erzählung hervorholt. Und auch zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieses Werk noch immer eindringlich, bewegend, wichtig. Der Hanser Verlag hat diesem Buch eine würdige Neuauflage spendiert – und erinnert damit an den großen Schriftsteller W. G. Sebald, der im Dezember 2001 bei einem Autounfall ums Leben kam.
W. G. Sebald: Die Ausgewanderten. Hanser: München 2013.