Yoko Ogawas Roman »Schwimmen mit Elefanten« erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der die Ästhetik des Schachspiels für sich entdeckt. Durch einen Zufall begegnet er seinem Sensei, seinem Meister: Ein ehemaliger Busfahrer von enormer Leibesfülle, der sich aus einem ausrangierten Bus ein Heim erschaffen hat, in dem er dem Jungen jeden Tag nach der Schule zum Schachspielen empfängt. Der Meister ist kein Schachlehrer und er war nie in einem Schachklub Mitglied. Doch er spielt gut und weiß mit dem schweigsamen und zurückhaltenden Kind umzugehen. Er ermutigt ihn zu selbstbewussten und dennoch zurückhaltenden Zügen und die Zeit offenbart das große Talent des Jungen. Er lernt die Poesie des Spiels zu schätzen und kommt schließlich an das Ziel jeden Schülers, er setzt seinen Meister Schachmatt.

Aber der Mann führte den Jungen auf den Ozean des Schachs hinaus, wo er ihn lehrte, nur sich selbst zu vertrauen und eigene Spuren zu hinterlassen, ohne dabei vor Abgründen und gefährlichen Strömungen zurückzuweichen.

Dieser innerlichen Reife des Jungen steht seine durchdringende Angst vor dem Heranwachsen entgegen. Seit er als Kind die Geschichte des Elefanten Indira gehört hatte, ist die Zunahme an physischer Masse für den Jungen ein grausames Schreckensszenario: Indira, ein kleiner Elefant, wurde bei der Eröffnung eines Kaufhauses  zur Unterhaltung der Kunden auf dessen Dach gebracht. Der Elefant war bei den Kindern so beliebt, dass er länger als geplant dort behalten wurde. Als aber schließlich der Tag kam, an dem man ihn zurück in den Zoo bringen wollte, war der Elefant bereits so groß, dass sie weder in den Fahrstuhl noch durch das Treppenhaus passte. Er lebte daher 37 Jahre lang bis zu seinem Tod an einer dicken Eisenkette gefangen auf diesem Dach, wo nun eine kleine Eisentafel an ihn erinnert. Vor dieser Tafel steht der Junge zu Anfang des Romans und wundert sich darüber, wieso ihn dieser Kaufhauselefant so fasziniert. Er empfindet Mitleid mit dem Elefanten Indira, der jahrelang hier oben wohnte. Aber er verspürt zu seinem Erstaunen auch Neid. Er beneidet ihn darum, sein Leben lang nicht ausbrechen zu können.

Großwerden ist eine Tragödie. Diese Erkenntnis hatte sich tief in sein Herz gegraben.

Das Leitmotiv des Romans ist diese Furcht des Jungen. Furcht vor dem Größerwerden, vor dem Sichtbarsein. Er entwickelt passend dazu eine Vorliebe für Blindschach. Schon im Bus seines Meisters verkriecht er sich vorzugsweise unter dem Tisch, auf dem das Schachbrett steht, und erkennt nur an den Geräuschen der Figuren die Züge seines Gegners. Später findet er quasi folgerichtig seine Bestimmung in der Bedienung eines Schachautomaten, den er aus dessen winzigem Innenraum heraus steuert. Um dort Platz zu finden, musste er eine Entscheidung treffen. Und zwar die, nicht mehr zu wachsen.

Ihm war, als schwimme er auf einem Meer, das sich auf dem Dach des Kaufhauses befand. Er war weit unter der Wasseroberfläche, obwohl der Meeresgrund immer noch in unermesslicher Tiefe lag. Es herrschte eine durchdringende Kälte, er jedoch empfand keinerlei Furcht. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich seltsam unbeschwert.

Der Junge bringt seine Entwicklung willentlich zum Stillstand und kann erst dadurch seine wahre Begabung entfalten. Das Kleinbleiben ermöglicht es ihm, gefangen zu sein, wie Indira. »Schwimmen mit Elefanten« ist somit ein Entwicklungsroman. Oder vielmehr das Gegenteil davon.

Für weniger versierte Schachspieler sind die doch häufig in die Geschichte eingeschobenen Notationen (»Kg2 – h3+, Txh3 – Lxh3+…«) zwar teilweise schwer nachzuvollziehen, dafür überträgt sich die Begeisterung für das Spiel umso deutlicher. Yogo Ogawa ist mit ihrem Buch eine Ehrerbietung an das Schachspiel gelungen, die den Leser auf dessen geheimnisvolle, verborgene Aspekte neugierig macht.

Yoko Ogawa: Schwimmen mit Elefanten. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Verlagsbuchhandlung Liebeskind: München 2013.

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