Es gibt viele Gründe, T. C. Boyle zu lesen. Und trotzdem fällt es schwer, zu beschreiben, welche Art von Geschichten er erzählt. Auf den ersten Blick wirkt das gewaltige Konglomerat aus kurzen Erzählungen und Romanen mit den verschiedensten Strömungen und Themen durchwachsen, ein heterogenes Gestrüpp der unterschiedlichsten literarischen und politischen Epochen. Doch je näher man die einzelnen Geschichten betrachtet, je näher man mit dem Objektiv des Lesers an die einzelnen Figuren heranrückt, um in beinahe voyeuristischer Manier ihr Schicksal zu betrachten, desto mehr wird ein roter Faden auffällig, eine Grundierung, die sich unter allem befindet. Natürlich variieren Setting und Handlung von Buchdeckel zu Buchdeckel, mal dreht es sich um den Erfinder der Frühstücksflocken, mal um Stuntmen und Marihuana-Bauern, und dennoch hat man bei der Lektüre immer den selben Geschmack im Mund, eine morbide Faszination am Unheil und die Gewissheit, dass es zu solchem kommen wird.
Entsprechend vorbereitet Boyles neuestes Werk in die Hand zu nehmen ist keine schlechte Idee, denn »Hart auf Hart« hält, was der Titel verspricht. Nachdem der dokumentarische Aspekt in dem 2013 erschienenen »San Miguel« mehr einen Schritt in die historische Richtung vornahm, und daher an gewisse Vorgaben gebunden war, so ist Boyle nun wieder Lage, die Collage seiner Erzählung gänzlich frei zu gestalten.
Im Mittelpunkt stehen drei Figuren, deren sich tangierende Lebensgeschichten in parallelen Handlungssträngen verflochten werden. Adam, ein junger Außenseiter, dessen Wahrnehmungsstörungen ihm das Leben in der Gesellschaft erschweren, und dessen großes Vorbild ein Trapper namens Colter ist, baut im beschaulichen Kalifornien mitten im Wald Opium an. Sein Vater, der pensionierte Schuldirektor Sten wird währenddessen auf einer Kreuzfahrt von einheimischen Kleinkriminellen angegriffen und tötet einen von ihnen in Notwehr. Sara schließlich lernt Adam kennen, und da beide auf ihre jeweilige Weise nicht in die Gesellschaft passen, verlieben sich die beiden ineinander. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer, denn die Gesellschaft dringt von außen in die Welt der beiden ein. Für Adam, Sara und auch für Sten heißt es fortan: »Hart auf hart«. Gezeichnet wird dabei das Bild von einem Amerika, das in der Realität bereits existiert, das jedoch noch einige Zeit benötigt, um in den Köpfen anzukommen. Ein Amerika, das am Ende ist, und dennoch weiter weiterlebt. Der Amerikanische Traum ist existent, aber er ist ein Alptraum des Scheiterns, und die Leidtragenden sind die, die es nicht verstehen, sich dem maroden System anzupassen.
Sprachlich ist das natürlich wieder brillant gestaltet, das steht außer Frage, vielmehr begründet sich das flaue Gefühl, mit welchem T. C. Boyles neuester Streich erwartet wurde, auf der Sorge, dass langsam das Ende der Variation erreicht ist. Als kritischer Leser kann man sich nach 14 Romanen und über 60 Kurzgeschichten berechtigt die Frage stellen, ob die Welt wirklich noch mehr Boyle braucht. Allerdings muss man sich, gerade als kritischer Leser, allein nach Lektüre des ersten Kapitels eingestehen, dass dem so ist. Eine derartige Schärfe in der Beobachtung soziokultureller und politischer Ereignisse, wie sie in »Hart auf Hart« auftaucht, ist einzigartig, ohne jedoch den Anspruch auf Einzigartigkeit zu erheben.
Diese Leute erkannten ihren Status nicht an, sie wussten nicht das Allergeringste vom Universal Commercial Code und den Rechten, die er ihr verlieh, und das war ihnen auch vollkommen egal.
Es mag ein beiläufiger Satz sein, eine augenzwinkernde Anmerkung, in der mehr Aktualitätsgehalt stecken kann, als in ganzen Essays. Sara, Adam und Sten sind insofern weitaus mehr als nur Romanfiguren, sie werden schnell zu Archetypen von Bürgern, die von ihrer Gesellschaft zum Scheitern verurteilt werden. Eine Frau, die das geltende Recht des Staates Kalifornien nicht anerkennt, ein Junge, dessen Psychopharmaka-getränkte Jugend ihn an den Rande des Wahnsinns gebracht hat, ein Mann, der in jedem Sinne amerikanisch handelt, und dennoch mit den Zweifeln zu kämpfen hat. Es bezeugt die literarische und menschliche Größe T. C. Boyles, dass er diese Figuren kreiert dekonstruiert, ohne dabei mit dem moralischen Zeigefinger die Missstände aufzuzeigen, die ohnehin schon für jeden sichtbar sind. »Hart auf Hart« ist kein Bildungsroman, auch keine polemische Systemkritik, vielmehr wird eine Geschichte, wie man sie jeden zweiten Tag im Fernsehen oder der Zeitung erfährt, aus dem Blickwinkel des wichtigsten Beteiligten geschildert. Nicht aus der Sicht des Opfers, mit einer übermäßig melodramatischen Atmosphäre, sondern aus der des Täters, der in diesem Fall aber auch nur ein weiteres Opfer ist.
Es gibt viele Gründe, T. C. Boyle zu lesen. Manche von uns faszinieren die menschlichen Abgründe, die er schildert, andere schätzen seine Sprache oder die Tatsache, dass er einen ungetrübten Blick auf die Dinge hat, welche wir nur allzu gerne verschleiern möchten.
Was auch immer die Gründe sein mögen, wenn man T. C. Boyle mag, dann wird man »Hart auf Hart« lieben.
T.C. Boyle: Hart auf Hart. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser: München 2015.