Boyle_24323_VS_MR1.inddEin neues Jahr, ein neuer Boyle. Beglückte der Hanser-Verlag die Leser 2012 noch mit dem Ausflug ins Tierreich »Wenn das Schlachten vorbei ist«, so steht nun schon das nächste Werk vor der Tür: »San Miguel«, benannt nach der Insel vor der kalifornischen Küste, die gleichzeitig auch den Handlungsort liefert.

Bereits im Vorfeld gab es viel Furore: »Das wird sein erster Roman ohne Sarkasmus!«, sagten die einen, »Er bleibt sich treu«, sagten die anderen. Die Wahrheit liegt – wie so oft – irgendwo in der Mitte. Sicher ist das ein Roman von T. C. Boyle, das merkt man auf jeder Seite, zwischen jeder Zeile, in jedem Gedanken. Doch die Atmosphäre wirkt nüchtern, weniger überdreht, beklemmend. Das Elend passiert, das steht fest, doch beim Leser bildet sich nicht die sonstige süffisante Schadenfreude gepaart mit Fassungslosigkeit, sondern vielmehr Mitleid und Bedauern.

Das mag an den Protagonistinnen liegen, die – für Boyle nicht untypisch – auf historischen Vorlagen basieren und diesmal ganz besonders fein ausgearbeitet scheinen.

Die drei Frauen, die ihr Leben auf San Miguel verbringen (müssen), angefangen bei der schwindsüchtigen Marantha Waters, die in einer kalten Neujahrsnacht im Jahr 1888 dort ankommt, wirken weniger wie fiktive Reflektorfiguren als vielmehr wie direkt aus den historischen Dokumenten entsprungen, die der Autor für seine Recherche benutzte. Das Setting der Insel bietet hingegen boyle-klassisch eine für den Menschen feindliche und ungemütliche, gleichzeitig aber auch eine natürliche und wunderschöne Umgebung.

Abgesehen von einigen hunderten Schafen befindet sich nichts in der Einöde, als Marantha Waters mit ihrer Familie dort eintrifft. Ihr Mann Will hat sich eine Schafzucht in den Kopf gesetzt, sieht sich jedoch bald mit urzeitlichen Naturgewalten und dem sich rasch verschlechternden Gesundheitszustand seiner Frau konfrontiert. Als endlich der Rückzug angetreten wird, ist es für Marantha Waters bereits zu spät: Sie stirbt auf dem Festland.

Damit hat die Geschichte ihrer Tochter Edith allerdings erst begonnen. Und viele Jahre später wird noch eine Andere kommen, die Frau des »legendary King of San Miguel«. Es passiert viel in »San Miguel«, von angreifenden japanischen U-Booten liest man ebenso wie von Guano sammelnden Abenteurern; der Patriotismus des ersten Weltkriegs wirkt sich auf das Eiland ebenso aus wie die Weltwirtschaftskrise. Dennoch bleibt die Stimmung stets in einer Art stoischen Gelassenheit, für die Inselbewohner bleiben die Sorgen mehr auf einer praktischen Ebene, die Dünen hinter dem Haus, die immer näher rutscht, das Lamm, das sich in der Nacht verirrt hat, die Verspätung der Scherer.

Was kann man also über den neuen Boyle sagen? Es ist ein nachdenklicheres Werk, das in Stille und Einsamkeit seine zwei Hauptkomponenten findet, es ist auch ein typischer Boyle, in welchem Menschen in die Abgründe ihrer Existenz stürzen, ohne etwas dafür zu können oder etwas dagegen zu tun. Vor allem aber ist es ein mit viel Geduld recherchierter und sprachlich (wie immer) makelloser Roman, dessen Lektüre dem Leser eine Gänsehaut beschert, als würde man selbst am windigen Strand von San Miguel stehen.

T. C. Boyle: San Miguel. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag: München 2013.

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