Unser Adventsgewinnspiel geht in die dritte und damit vorletzte Runde. Da wird es langsam Zeit, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu befassen. Und welches Thema wäre dringlicher als der Niedergang des Kapitalismus, wie wir ihn kannten? Lange haben wir auf den Roman zur Wirtschaftskrise warten müssen, bis uns dann ein alter Bekannter endlich erlöste. Wer hätte das außer uns schon gedacht: Rainald Goetz schreibt mit »Johann Holtrop« einen ebenso unterhaltsamen wie scharfsinnigen Roman über die charakterliche Verkommenheit der Wirtschaftselite und die Ohnmacht einer ganzen Gesellschaft. Und tritt nebenbei erneut den Beweis an, dass Literatur als Instrument der Gegenwartserkenntnis noch nicht ausgedient hat. Fürwahr ein furioser »Abriss der Gesellschaft«! Weiterlesen

Rainald Goetz wütet wieder, nicht jedem gefällt das. All der Spott, die Verachtung, die »Denunziation seiner Figuren«, auf die Dauer kann das ziemlich anstrengend werden. Man vergisst dann beinahe, dass es nie wirklich anders war und dass das genüssliche Auskotzen von Hass, Hass und noch mehr Hass bei Goetz einfach dazu gehört. Ja, Empathie ist seine Sache nicht unbedingt, aber braucht die Literatur das Mitgefühl? Oder entstehen die besseren Bücher nicht gerade aus der Weltverachtung heraus, wohlgemerkt aus der Verachtung einer ganz bestimmten Welt, in diesem Fall der Welt des Kapitals? Um eben jene alles verdummende und erniedrigende »Herrschaft des KAPITALS« dreht sich »Johann Holtrop«, Goetz‘ jüngster Roman über den Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Medienkonzerns namens Assperg AG. Der Protagonist, besagter Johann Holtrop ist ein egomanisches und narzisstisches Arschloch, aber immerhin ist er nicht allein. Seine Kollegen, Geschäftspartner, Konkurrenten und Rivalen stehen ihm in Puncto Niederträchtigkeit und Stumpfsinn in nichts nach, weshalb es aber nicht schade ist, wenn Holtrops Untergebene – »Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe«  – von diesem ohne Umschweife in Gedanken zur Altglassammlung verfrachtet werden. Zwischendrin macht auch der Erzähler immer wieder unmissverständlich deutlich, was er von dieser Entourage, inklusive Holtrop, hält: Trottel, Deppen und Nullen aller Art bilden das Personal des Romans, dass es nur so eine Freude ist.

Das wäre doch das Ideal: aus der Normalität des realen Lebens heraus eine maximal asoziale Kunst zu machen, Sozialtextkunst.

(Rainald Goetz: »Klage«)

So steht es geschrieben, datiert auf den 19. April 2007, in »Klage«, dem Eröffnungsband des Werkteils »Schlucht«, also dem Vorvorgänger von »Johann Holtrop«. Zuvor geht es wie so oft um Thomas Bernhard, der, so Goetz‘ Erzähler, »den widernatürlichsten und schönsten Entwicklungsweg« genommen habe: »immer platter, immer deutlicher, immer zugänglicher«. »Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung«, so hat Bernhard die Maxime seines Lebens und Schreibens einmal zusammengefasst. Auf Goetz trifft das ebenfalls zu, aber »Johann Holtrop« ist noch mehr. Der Roman verbindet eine bernhardeske Lust am Wüten mit einem unbedingten Erkenntnisauftrag. Es gilt auch weiterhin Satz #1 der Goetzsatzung: Ziel ist das »wirklich wahre Abschreiben der Welt«. Eine Zeit lang nannte man das Pop, vielleicht sollte man aber besser von einem reflektierten Realismus sprechen, der das eigene Sich-Aussetzen, das Eintauchen in fremde Milieus und Diskurse  zum Mittel der Welterfahrung macht.

Im Grunde ist Goetz ein Aufklärer, ein letzter Moralist in einer unmoralischen Welt. »Johann Holtrop« malt das Panorama eines kaputten Systems, in dem Gier und Machtstreben Menschlichkeit und Ratio längst ersetzt haben, und gibt kurzweilige Einblicke in die Psychoarchitektur der Machtelite. Die Handlung setzt kurz nach dem 11. September 2001 ein, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG erreicht gerade den Zenit seiner Macht. Die Menschen in seiner Umgebung verachtet er ebenso sehr, wie diese dem aufstrebenden Holtrop die Anerkennung und den Erfolg missgönnen. Dann geht die Wirtschaft den Bach runter und parallel dazu folgt der sukzessive berufliche und persönliche Abstieg Holtrops bis zur vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie, womit sich gewissermaßen der Kreis schließt zu »Irre«, Goetz‘ gefeiertem Debüt von 1983. Bis es aber soweit ist, kann der Leser sich rund dreihundert Seiten lang an ausufernden Satzungetümen erfreuen, gespickt mir absurd übersteigerten Neologismen, all das wohlgemerkt höchst virtuos inszeniert. Der Goetzkenner kennt das nicht anders, aber doch wird auch er hier nicht selten an Bernhard erinnert werden  – schließlich macht die Lektüre fast genauso viel Spaß.

Rainald Goetz:  »Johann Holtrop«
Rainald Goetz: »Johann Holtrop«

»Johann Holtrop« nennt sich Roman, aber Gattungsangaben dieser Art sind bei Goetz wenn überhaupt als grobe Empfehlung zu verstehen, siehe das Internettagebuch »Abfall für alle«, der »Roman eines Jahres«. Und darum wird in Besprechungen und Rezensionen bereits munter spekuliert, welche realen Personen sich hinter der literarischen Verkleidung verbergen, wer hier wie und warum gedisst wird. So erwartbar, so langweilig. Spannend wird es, wenn man »Johann Holtrop« als Ganzes nimmt, nicht als Beschreibung einer Person, sondern als genuin künstlerische Annäherung an die Mechanismen und Folgen einer Produktions- und Wirtschaftsweise. Und siehe da, realiter die gleiche Undurchsichtigkeit, der gleiche Irrsinn wie in echt. Warum die Personen so handeln wie sie handeln, und wie sie handeln, soll heißen: was sie tun, wissen weder sie selbst noch der Leser. Klar wird nur, dass die schöne neue Welt des Kapitalismus schlussendlich im Chaos versinkt, zusammen mit dem Protagonisten, naturgemäß und verdientermaßen. Aber in der wenig versteckten Genugtuung ob Holtrops Untergang steckt der Haken: Goetz‘ Furor ist der Ohnmacht geschuldet, nichts ausrichten zu können. Es ist nicht der Erzähler, der Holtrop zu Fall bringt, sondern eben jenes System, das ihn erst nach oben gespült hat. Der Gegenwartschronist spuckt Gift und Galle, nicht weil er verachtet, was er zu beschreiben verdammt ist, sondern weil er zusehen muss, wie alles auch weiterhin seinen Lauf nimmt. Keine Illusionen, nur mehr Wut, das ist die bittere Konsequenz. »Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu.« Auch so ein Bernhardsatz.

 

Rainald Goetz (geb. 1954) ist promovierter Mediziner und Historiker und ein maßgeblicher Protagonist der so genannten Popliteratur der 80er und 90er Jahre. Zum Werkteil »Schlucht« gehören außer »Johann Holtrop« die Bände »Klage« (2008), »loslabern« (2009), »elfter september 2010« (2010), »D.I.E abstrakte« (2010, zusammen mit Albert Oehlen), »Kapitalistischer Realismus« (2010) sowie »politische fotographie« (2011). »Johann Holtrop« schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  


Rainald Goetz: »Johann Holtrop«. Suhrkamp: Berlin 2012. 

 

»Das Gespenst des Kapitals« – der Titel von Joseph Vogls 2010 erschienenem Essay, der  gleichermaßen an Marx‘ Opus Magnum wie an Derridas »Spectre de Marx« erinnert, gibt die Richtung vor. Hier betreibt jemand die Fortführung einer Kritik der politischen Ökonomie mit poststrukturalistischem Begriffs- und Analyserepertoire. Und wie! Unerbittlich und doch präzise seziert Vogl die liberal-kapitalistische »Oikozidee«, wonach »der Markt« die Dinge früher oder später schon regeln wird. Bisweilen kann man ob der Belesenheit des Autors dabei beinahe vergessen, dass der Literaturwissenschaftler Vogl gar nicht vom Fach ist. Für den in ökonomischer Theorie weitgehend unbewanderten Leser gestaltet sich die Lektüre nicht unbedingt einfach, aber die Mühe lohnt. Muss man alles en détail verstehen, was Vogl herbeizitiert? Nein. Muss man »Das Gespenst des Kapitals« trotzdem lesen? Unbedingt.

Mehr noch als der beispiellose Zuspruch an sich ist bemerkenswert, dass David Graebers »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« diesen quer durch das politische Spektrum erfährt, von der konservativen »FAZ» bis zur linken »Konkret«. Spricht der in den Augen vieler unlängst zum Kapitalismuskritiker geläuterte »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher schlicht von einer »Befreiung«, so wundert sich der »Konkret«-Rezensent Matthias Becker in der Juli-Ausgabe des Magazins, dass »Schulden« trotz der Lobeshymnen von »FAZ«, »Spiegel« und Co. »ein großartiges Buch« geworden sei. Dabei lässt der große Erfolg bei Kritikern wie Lesern (aktuell Platz 6. der »Spiegel«-Bestsellerliste Sachbuch) vermuten, dass »Schulden« so etwas wie das Buch zur Krise ist – der lang ersehnte Versuch, die unglaublichen Vorgänge in Europa und weltweit zu begreifen. Doch dieser Eindruck täuscht zumindest teilweise: Obwohl »Schulden« durchaus versucht, den Bogen zu aktuellen Entwicklungen zu spannen, taucht die Schuldenproblematik der Gegenwart nur am Rande auf, nämlich im ersten und letzten Kapitel. Das ist nur zu begrüßen, immerhin zirkulieren Deutungen der Krise allenthalben und doch mangelt es meist am historischen Weitblick, um die derzeitigen ökonomischen Verwerfungen verstehbar und somit auch jenseits einfacher moralischer Schuldzuweisungen kritisierbar zu machen. Stattdessen dominieren Einschätzungen, die sich meist der hergebrachten wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze bedienen und folglich jene Ideologie reproduzieren, die zur gegenwärtigen Misere wesentlich beigetragen hat. Kein Wunder, dass das schließlich zu solch absurden Forderungen wie der nach einem »neuen Kapitalismus« führt, aber dazu hat die »Titanic« ja bereits alles notwendige gesagt – »Jedes System hat halt die Logiker, die es verdient«. Weiterlesen