Sjón ist Isländer und schrieb mal Liedtexte für Björk. Eines dieser Lieder fand oscarnominiert Platz in Lars von Triers Film »Dancer in the Dark«. Das ist, was in den meisten Pressetexten über diesen Autor zu lesen ist. Island, Björk und Lars von Trier: eine flackernde Kombination. Das Interesse ist geweckt, es kribbelt unter den Fingernägeln. Aber braucht es diese Vorschusslorbeeren, um Sjóns »Der Junge, den es nicht gab« an den Leser zu bringen?

Island hat ja neben der Pop-Diva eine Handvoll weiterer Ausnahmetalente hervorgebracht, die international Anerkennung erhalten. Sigur Rós beispielsweise. Eine Band, die für Zuhörer außerhalb Islands in nahezu unverständlicher Sprache musiziert, und trotzdem die großen Hallen regelmäßig füllt. Ein Phänomen – wie  Björk eben. Und Sjón? Der kann locker mithalten. Weiterlesen

Ein Park irgendwo in Japan als Schauplatz einer zaghaften Begegnung. Zunächst sind es noch zwei Bänke, auf denen die beiden Männer sitzen, jeder für sich allein. Von seiner Bank aus beobachtet der Erzähler, ein menschenscheuer junger Mann namens Taguchi Hiro, über Tage hinweg, wie ein alternder Büroangestellter Stunde um Stunde auf der gegenüberliegenden Bank verbringt, mit Zeitung lesen, Vögel füttern, Löcher in die Luft starren, schlafen. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, sitzt er dort und vertreibt sich so die Zeit. Zwischendrin wird er von Tränen übermannt. Weil der Erzähler den Namen des Fremden aber anfangs nicht kennt, muss dessen charakteristisches Kleidungsstück, eine rotgrau gestreifte Krawatte, als Namensgeber herhalten. »Ich nannte ihn Krawatte« ist das dritte Buch der jungen österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar und trotz der wenigen beschriebenen Seiten eine große Sensation.

Ich nannte ihn Krawatte.

Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.

Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.

In poetischen Bildern und glasklar entrückter Sprache erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« vom Schicksal der beiden Männer und wie sie sich näher kommen, kennen lernen, anfreunden. Ganz ohne Effekthascherei, dabei aber höchst effektiv, genügen wenige Worte um ein subtiles Gefühl der Melancholie zu evozieren, ja mithin schon ein Versprechen zu geben auf das, was da noch kommen wird: keine heitere Geschichte. Nicht nur, dass der Fremde von tiefer Trauer und Unglück gezeichnet scheint. Auch der bisherige Lebensweg des Erzählers gleicht einer kleinen, privaten Tragödie. Denn die letzten zwei Jahre verbrachte er allein und abgeschottet in seinem Zimmer im Haus der Eltern, ohne Kontakt zur Außenwelt. »Hikikomori« nennt man diese überwiegend jugendlichen oder jungen Exilanten, die für Monate oder gar Jahre die Flucht ins Allerprivateste antreten. In Japan ist das längst ein Massenphänomen, die Schätzungen reichen bis hin zu einer Million Betroffener, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte.

»Ich nannte ihn Krawatte«
»Ich nannte ihn Krawatte«

Im Gespräch mit Krawatte legt Taguchi langsam seine Ängste ab, er tritt den schwierigen und langen Weg zurück in die Gesellschaft und in seine Familie an. Parallel erzählt er, wie es dazu kam, dass er eines Tages mit den Worten »Ich kann nicht mehr« in seinem Zimmer verschwand, das fortan für zwei Jahre zu seiner Höhle, seinem Zufluchtsort werden sollte. Es ist eine berührende Geschichte über die eigene Scham und den Verlust eines geliebten Menschen, welcher Krawatte aufmerksam folgt. Umgekehrt erzählt Krawatte aber auch von sich, dass er seine Arbeit verloren hat und sich nicht überwinden kann, es seiner Frau zu sagen. Stattdessen verlässt er weiterhin täglich zur gewohnten Zeit das Haus, doch anstatt ins Büro geht er in den Park. Scham und Angst, auch auf dieser Seite der Parkbank. Im Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können, sind der Hikikomori und Krawatte verbunden, und eben diese Verbundenheit gibt ihnen Halt.

Wir sagen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge gerade zu biegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren.

Die große Stärke des Romans besteht zweifellos darin, dass er ohne jede Sentimentalität von zwei Existenzen erzählt, die im Jargon der so genannten Leistungsgesellschaft als »gescheitert« gelten dürften. Er erweckt kein Mitleid, aber er gibt Hoffnung. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber die Erinnerung, die im gegenseitigen Erzählen festgehalten ist, spendet immerhin Trost. Eingeschlossen in Melancholie und Traurigkeit zeugt »Ich nannte ihn Krawatte« so vom Willen, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge weiterzumachen, und verbreitet einen zarten Hauch von Optimismus. »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden«, heißt es bei einem anderen großen Österreicher. Flašars Figuren sind am Ende einen Schritt weiter, auch wenn sie nur eines gelernt haben: »Dass es sich lohnt, am Leben zu sein«.

 

Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  

 

Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«. Wagenbach: Berlin 2012.