u1_978-3-10-002388-9Beinahe bekommt man den Eindruck, Slavoj Žižek würde schneller Bücher schreiben, als man sie als Normalsterblicher überhaupt lesen könnte. Denn nicht nur erschien 2015 der Essay »Blasphemische Gedanken« bei Ullstein, nun wartet bei Fischer bereits das nächste Werk auf eifrige Leser. »Ärger im Paradies« lautet der Titel. Und wie direkt im Vorwort etwaigen Unwissenden erklärt wird, handelt es sich dabei selbstverständlich um eine Hommage an Ernst Lubitschs Filmkomödie TROUBLE IN PARADISE von 1931.

Dabei steckt in der Wahl des Buchtitels mehr Bedeutung verborgen als die einer banalen Zitation, vielmehr dient der ebenso simple wie tiefgründige Plot des Films – die Geschichte eines geschickten Diebes-Liebespaars, das durch eine Dreiecksbeziehung an den Rande des Abgrunds gerät – als Aufhänger für die Thematik des Buches.

Denn ebenso wie der männliche Protagonist Gaston zwischen seiner Komplizin Lily und der reichen Bürgerin Mariette hin- und hergerissen ist, so kann man auch die derzeitige Weltpolitik als in einem Schwebezustand zwischen Revolution und Reaktionismus erachten. Wie sich bereits erahnen lässt, dreht es sich diesmal um weitaus konkretere Themen als in Žižeks zuletzt bei Fischer verlegtem Band »Was ist ein Ereignis?«, doch stehen die beiden Bücher – nicht zuletzt wegen der gleichen Cover – in einer gewissen Relation zueinander. In »Event«, wie der Originaltitel des ersten Werks lautet, legte der Autor einen gewissen theoretischen Grundstein (natürlich nicht, ohne diesen, ganz in žižekscher Manier mit filmischen Beispielen zu schmücken), während »Trouble in Paradise«, das in englischer Sprache übrigens ebenfalls 2014 erschien, nun Bezug auf die aktuelle Weltpolitik nimmt.

Und hier offenbart sich auch schon die analytische Genialität Slavoj Žižeks: Denn obgleich er das Buch vor 2014 mit dem Blick auf die damalige Lage verfasste, lassen sich die meisten seiner Beobachtungen auch auf die heutige Situation applizieren, mehr noch, es scheint hin und wieder, als würde Žižek der Geschichte die Ereignisse vorwegnehmen, wenn er beispielsweise den Verlauf der Flüchtlingskrise vorzeichnet oder den Protesten in der Türkei einen hohen Stellenwert einräumt (zu einem Zeitpunkt, als die Annäherung Erdoğans an die EU noch in vollem Gange war und man geneigt war, die Proteste als lokales Phänomen abzustempeln).

Die grundlegende Frage von »Ärger im Paradies« ist eine ganz elementare: Ist der Kapitalismus gescheitert? Dass man darauf keine klare Antwort geben kann, sollte ebenso eindeutig sein wie die Einstellung, die der differenzierte Polemiker Žižek dazu bezieht: Dementsprechend liest sich das Buch auch weder wie eine neokommunistische Kapitalkritik im Geiste Sloterdijks noch wie eine Verteidigung des Kapitalismus im Sinne des momentan überall auftretenden Neoliberalismus. Vielmehr folgt auf den 350 Seiten, die an die Analyse von Ernst Lubitschs Meisterwerk anschließen, eine nüchterne, über weite Strecken beinahe neutrale Bestandsaufnahme der Situation, in der sich die westliche Welt (und damit verbunden der Rest der Welt) befindet. Diese wertungsfreie Dokumentation spricht schon allein deswegen für sich, als dass wir uns nun, mehr als zwei Jahre später, immer noch an derselben Stelle befinden und als die einzige Neuerung die näher gerückten Gewitterwolken am politischen Horizont erkennen.

Viele der Geschichten, die Žižek erzählt und einige der Beobachtungen, die er macht, mag der eine oder andere vielleicht auch schon wahrgenommen haben – beispielsweise dass fundamentalistischer Terror nicht „einfach so“, sondern durch Einwirkung verschiedener Interessengruppen und enormes (meist durch westliche Geschäfte und Handlungen erzeugtes) Elend entsteht – aber selten gelingt es, diese Erkenntnisse in einen größeren Kontext zu setzen (wie es unter anderem Michael Lüders in dem großartigen Werk »Wer den Wind sät« über die westliche Nahost-Politik geschafft hat). Žižek geht hier jedoch einen Schritt weiter, und entfernt sich von den Krisenherden und Einzelfällen hin zu einer Art Universaltheorie der politischen und wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit. An dieser Stelle läuft das Vorhaben leider etwas aus dem Ruder (was der Autor auch selbst bemerkt) und ehe man es sich versieht, findet man sich in einem Vergleich von Christopher Nolans THE DARK KNIGHT RISES mit der Occupy Wallstreet-Bewegung wieder.

Dass man das Buch an diesem Punkt nicht verwirrt zur Seite legt, liegt an Žižeks einzigartigem Stil, selbst die komplexesten Gedankengänge derart zu segmentieren und auszuschmücken, dass selbst der größte Philosophie-Muffel willens ist, ihnen zu folgen. Dass eine Mehrzahl der Beispiele aus der Pop- und Mainstreamkultur kommt, mag einerseits ein Werkzeug eben dieser Methode sein, andererseits zeigt der Psychoanalytiker Žižek hiermit auf, wie tief die Wahrnehmung des Abgrunds, vor dem wir stehen, in unser Unterbewusstsein eingedrungen ist. Wenn beispielsweise der Batman-Bösewicht Bane mithilfe eines Börsencrashs und einer Militärdiktatur die Herrschaft von Gotham City an sich bringt, wie weit ist das noch von den Bildern aus der Ukraine oder Nordkorea entfernt? Ist das Bedürfnis der Menschen nach einem starken Führer in Zeiten der Not nicht ebenso in dem „Yes we can“-Slogan Obamas und dessen Inszenierung durch den Graphiker Shepard Fairey vertreten wie in dem aktuellen Hype mancher Amerikaner um Donald Trump? Es sind viele Fragen, die Žižeks Buch aufwirft, und nur wenige, die es beantwortet. Doch in diesen wirren Zeiten spricht dies vielleicht sogar mehr für ein theoretisches Werk als der inzwischen vorherrschende Drang, für jedes Phänomen ad hoc eine Erklärung bereitzustellen.

Es sind die Entwicklungen der kommenden Jahre, die über die Geltungsberechtigung solcher Bücher entscheiden, und »Ärger im Paradies« hat heute ebenso viel Aktualität wie 2014. Am Ende des Appendix zeigt Slavoj Žižek – der im übrigen Mitglied in der von Yanis Varoufakis gegründeten Bewegung DiEM25 (Democracy in Europa Movement 2025) ist, die sich um eine paneuropäische, demokratische Lösung der Krise bemüht – auf, dass der Kapitalismus einer kommunistischen Alternanz bedarf. Nicht etwa soll der Kommunismus als eigene Staatsform wieder hergestellt werden, sondern der Horizont der Menschen, die in kapitalistischen Demokratien leben, sollte kommunistisch bleiben. Das Auftreten von Staatsmännern wie Bernie Sanders, Alexis Tsipras oder Jeremy Corbyn könnte ein erstes Anzeichen für diesen Horizont sein.

 

Slavoj Žižek: Ärger im Paradies. Fischer: Frankfurt am Main 2015.

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