Spätestens seit A. A. Milnes »Winnie-the-Pooh« weiß jedes Kind, was ein Ginsterbusch ist: Ein stacheliges, hinterhältiges Gewächs, in welches der Bär mit dem geringen Verstand am Ende seines Bienen-Abenteuers fällt.

Bei Siegfried Kracauers Protagonisten handelt es sich allerdings nicht um einen Busch, wie man vielleicht anfangs vermuten würde, sondern um einen Menschen. Ginster – man erfährt leider nie, ob dies ein Vor-, Nach- oder Spitzname ist – lebt während des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in Deutschland, ist 25 Jahre alt und Architekt. Soweit lässt sich im Grunde der Inhalt des Romans zusammenfassen, der Rest ist Ausschmückung im Detail.

Vor der inhaltlichen Frage sollte man sich allerdings kurz der Editorik widmen. Aus einer sehr kurzen und sehr konfus formulierten Notiz am Ende des Buches kann man ableiten, dass »Ginster« 1928 im S. Fischer Verlag erschien, dann 1963 von Suhrkamp neu aufgelegt wurde und zuletzt 2004 in die Werkausgabe eingegliedert wurde, ebenfalls bei Suhrkamp (Band 7, Romane und Erzählungen). Die Notiz endet mit der Anmerkung, dass – abgesehen von einigen Druckfehlern und Kommata – bei allen Ausgaben nicht in die Fassung der Erstausgabe eingegriffen wurde.

Der geneigte Leser wird sich nun vielleicht fragen, warum es eine derartige Flut von »Ginster«-Veröffentlichungen gibt, und ob es überhaupt Sinn ergibt, sich diese teure Neuausgabe zu kaufen, anstatt eine gebrauchte Version von 1963 zu suchen, wenn da sich diese editorisch ja ohnehin nicht unterscheidet. Man kommt aber nicht umhin, der Version von 2013 eine Existenzberechtigung einzuräumen; die alten Ausgaben findet man kaum noch und die Bände der Werkausgabe sind so dermaßen teuer, dass es sich finanziell durchaus lohnt, die »Jubiläumsausgabe« anzuschaffen.

Als der Krieg ausbrach, befand sich Ginster, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, in der Landeshauptstadt M. Er hatte hier nach bestandenem Doktorexamen eine Stellung angetreten. Der Doktor wäre überflüssig gewesen, aber Ginster liebte die mit einem Examen verbundene Spannung und wollte im Bewußtsein, den Titel rechtlich erworben zu haben, später gleichsam inkognito ohne ihn leben.

Auf dem Buchrücken findet man Zitate zweier großer Literaten. Das eine ist absolut nichtssagend und von Thomas Mann: »Dieses Zeugnis wird bleiben. « Und ein (offen gesagt Irreführendes) von Joseph Roth: »Ginster im Krieg: das ist Chaplin im Warenhaus«. Es mag ja sein, dass die Chaplin-Rezeption in den dreißiger Jahren noch ein wenig anders war als heute, dennoch hinkt der Vergleich erheblich. Und so etwas heute immer noch zu behaupten, wirkt lächerlich. Auch im Klappentext wird Ginster mit Charlie Chaplin und Buster Keaton verglichen (wobei es zu letzterem tatsächlich mehr Parallelen gibt), es ist als wolle man den Leser unbedingt auf diese Schiene drängen, auf der er unweigerlich der Enttäuschung entgegen fährt. Denn Ginster ist in keinster Weise ein melancholischer Tramp, oder ein verträumter Arbeiter. Er ist ein junger Mann, der kaum Antrieb hat, der von sich selbst als Feigling denkt, der einsam ist und schwermütig. Wenn man an die Worte »Chaplin im Warenhaus« denkt, was fällt einem dann ein? Natürlich die Szene mit den Rollschuhen aus »Moderne Zeiten«. Was genau das mit jemandem wie Ginster zu tun hat, der auf 342 Seiten kein einziges Mal lacht, bleibt ungeklärt.
In den Wirren zwischen Musterungen, Nationalismus und der Entstehung sozialistischer Gruppen treibt der junge Architekt, der sich selbst immer nur als Hochbauingenieur bezeichnet, umher, irgendwo zwischen Langeweile und Angst. Mehrfach kommt er in Berührung mit dem Militär, wird schließlich auch eingezogen, die Front bleibt ihm jedoch erspart. Er muss lediglich Kartoffeln schälen und nach einiger Zeit wird er wieder vom Dienst freigestellt. Diese Episoden lesen sich tatsächlich am unterhaltsamsten, da Ginster hier mit Personen und Situationen konfrontiert wird, die ihm es nicht erlauben, antriebslos zu sein, wodurch immer wieder eine unfreiwillige Komik entsteht. Das bildet die einzige, mühsam an den Haaren herbeigezogene Parallele zu Chaplin, die in diesem Werk zu finden ist.

Sprachlich ist der Roman anspruchsvoll, da – wie eingangs erwähnt – sämtliche Formulierungen beibehalten wurden, auch die schon zur damaligen Zeit verstaubten. Besonders Ginsters Ausdrucksweise legt dem Leser so manchen Stolperstein in den Weg. Trotzdem bildet er eine charakteristische Vorlage für viele Romanhelden, besonders für die jungen, hoffnungslosen Antihelden der letzten Jahre. Genau wie sie hat Ginster nichts, wofür er kämpfen kann (oder will), er bleibt einsam, weil alle seine Versuche an seiner sozialen Unfähigkeit scheitern und im Grunde seines Herzens hasst er das Leben, das er führt. Und nicht nur das wird eindrücklich geschildert: Die Momente in denen Ginster wirklich überzeugt, sind die, in welchen Kracauer sich in Gesellschaftskritik übt, etwas wofür er letztendlich besser bekannt war als für seine Romane. Seine Streitschrift »Von Caligari zu Hitler« bildet heute noch einen elementaren Baustein der Filmwissenschaft. Auch in Ginster hat er die Möglichkeit, die ersten gesellschaftlichen Missstände aufzuzeigen, die schließlich und endlich zur Dolchstoßlegende und dem Aufstieg des Nationalsozialismus führen würden, er bleibt jedoch im Rahmen von Andeutungen und macht nicht den Fehler, gleich mit dem ganzen Zaun zu winken.

So bleibt der Roman »Ginster« ein eindrucksvolles Zeitzeugnis, das auch noch heute lesenswert ist (vielleicht war es ja das, was Thomas Mann ausdrücken wollte), mit einem blassen Protagonisten (körperlich wie geistig), einer Gesellschaft ohne Platz für solche Menschen und einer Welt im Krieg. Wen diese Themen von Grund auf faszinieren, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Wer mehr an Helden mit Charme und Charisma interessiert ist, sollte vielleicht doch lieber »Winnie-the-Pooh« lesen.

Siegfried Kracauer: »Ginster«. Suhrkamp: Berlin 2013.

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