Wer ist Richard Yates? Richard Yates ist einer dieser Autoren, bei denen jeder Literaturwissenschaftler immer sofort verständig mit dem Kopf nickt – von dem trotzdem alle nur ein Werk kennen. In diesem Fall »Zeiten des Aufruhrs«, Yates‘ ersten Roman von 1961. Danach war es still geworden um ihn und als er 1992 starb, fanden sich nur noch wenige Geschichten von ihm in den Buchhandlungen. Erst vor einigen Jahren fand Richard Yates einen Weg zurück in die Herzen der Menschen und sogar bis nach Deutschland: Seit 2002 erscheinen seine Romane und Kurzgeschichten bei der Deutschen Verlags-Anstalt. So auch »Eine gute Schule«.
Auf nur 230 Seiten wird hier eine Geschichte ausgebreitet, deren Dichte andere Werke nicht in mehreren Bänden erreichen. Beginnend in den USA der 40er Jahre, erzählt das lyrische Ich seinen  Werdegang an einer Schule für junge Männer, die sonst niemand haben wollte, der Dorset Academy.

Während die Einleitung noch klassisch aus Sicht der ersten Person beschrieben wird, wird diese Betrachtungsweise bereits im ersten Kapitel durch einen auktorialen Erzähler abgelöst, jeder Einzelne wird plötzlich überraschend detailreich und gefühlvoll beschrieben, jeder mit seinen Ecken und Kanten. Da ist Terry Flynn, ein gut gebauter, gut aussehender Football-Spieler, der jedoch zum dritten Mal eine Klasse wiederholt, Jean-Paul La Prade, der Französischlehrer, der eine Affäre mit der Frau des Chemielehrers hat und vom Dienst beim OSS träumt, Jack Draper, der soeben genannte, gehörnte Chemielehrer, der als erwachsener Mann an Kinderlähmung erkrankt ist und William Grove. Letzterer avanciert schnell nach seinem ersten Auftritt zum Protagonisten, der Leser beginnt in ihm das lyrische Ich der Einleitung zu erkennen, ein Junge aus ärmlichen Hause, der dennoch auf eine Privatschule geschickt wird, um »eine gute Schule« zu erhalten. Dort angekommen, scheint er jedoch erst einmal nur vor sich hin zu leben, er verwahrlost leicht und  schreibt schlechte Noten.

Den Wendepunkt erreicht er erst, als er beginnt als Redakteur für die Schülerzeitung zu arbeiten. Doch die Welt um ihn herum dreht sich unaufhaltsam weiter und an der Dorset Academy beginnen sich Ereignisse in Gang zu setzen, denen sich auch William Grove nicht entziehen kann. Wie mit einem feinen Pinsel zeichnet Richard Yates sanft die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren nach, jede einzelne Kontur ihrer Hoffnungen und Träume, ihre Ängste und die Momente in denen sie aufgeben.

Die Hauptfigur erinnert anfangs sehr an Holden Caulfield, den Jungen aus J.D. Salingers »Fänger im Roggen«, beide treiben in konzentrischen Kreisen vor sich hin, schweigend und ein wenig gleichgültig. Anders jedoch als der Träumer aus Manhattan vollführt William Grove eine interessante Wandlung, da er etwas entdeckt, das ihm tatsächlich Freude bereitet. Die Tatsache, dass Yates Salinger als Autor sehr schätzte und oft mit ihm verglichen wurde, sowie die Überschneidungen der beiden Werke – die Figuren haben ähnlichen Charakter und erzählen beide ihre Geschichte aus der Retrospektive – legen hier die Vermutung sehr nahe, dass Richard Yates in der Figur des William Grove den »Fänger im Roggen« rezipiert. Auf Salingers Anklage, die jungen Menschen hätten keinen Halt in der Gesellschaft und keinen Antrieb mehr, antwortet Yates mit dem Vorschlag, sie einfach das tun zu lassen, was sie am liebsten tun würden.
Ein weiterer Aspekt, der in »Eine gute Schule« zur Sprache kommt, ist der Krieg. Und auch hier gelingt dem Autor ein Geniestreich: Zwar findet die Handlung mitten im Zweiten Weltkrieg statt, doch scheint dieser erst einmal viel zu weit weg und zu unwichtig für die Jungen, um sich damit zu befassen. Wichtiger sind da doch die Klausuren, die Streiche untereinander und die Mädchen, die für einen Schulball von der benachbarten Mädchenschule zu Besuch kommen. Erst langsam beginnen sich die Schüler der Abschlussklasse über die Möglichkeit zu unterhalten, zur Armee zu gehen und die ersten Aufrufe zum Kauf von Kriegsanleihen erscheinen in der Schülerzeitung. Ein wenig später stirbt der erste junge Mann und plötzlich ist der Krieg auch an der Dorset Academy angekommen. Die Mischung aus banalem Schulalltag und der Brutalität des Krieges, beschrieben mit einer fast obszönen Gleichgültigkeit, ist Richard Yates einzigartig gut gelungen, man müsste in der Literaturgeschichte schon bis zu »Im Westen nichts Neues« zurückgehen, um ein ähnlich beklemmend reales und zugleich leicht verträumtes Werk zu finden.

Ein Buch, das einen mitreißt – ganz ohne Leiche, ohne Drachen und ohne Zauberschule, eine Geschichte, die über dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen nichts an Aktualität verloren hat und deren Ende einem die Tränen in die Augen treibt:
»Wahrscheinlich werde ich meinem Vater im Innern meines Herzens immer solche Fragen stellen und seine Liebe suchen, da ich immerzu daran scheiterte, sie zu suchen, als es darauf ankam; aber das alles – wie er immer verneinte, wenn er gedrängt wurde »Danny Boy« zu singen, dabei einen Schritt zurücktrat und eine kleine abwehrende Handbewegung machte, wobei er lächelte und zugleich die Stirn runzelte – das alles ist Vergangenheit.«
Alles was nach solchen Worten bleibt, ist zu hoffen, dass Richard Yates, als er vor exakt zwanzig Jahren in einem Veteranenkrankenhaus starb, sich trotz seiner schwerer Leiden auf eine einzige Sache gefreut hat: seinen Vater wiederzusehen.

Richard Yates: »Eine gute Schule«. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2012.

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