Heimlich, leise, beinahe lautlos entziehen die Gedichte von Stephan Reich dem Leser den Boden unter den Füßen. Es geht da um »aokigahara«, einen Selbstmörderwald in Japan. Es geht um »tunguska«, einen Fluss in Sibirien, an dem 1908 eine Reihe bis heute ungeklärter Explosionen stattfand. Es geht um die »havel«, in der Georg Heym beim Schlittschuhlaufen ertrank. Und es geht um »everest«, den großen Berg, an dessen Hängen über 200 Tote für die Ewigkeit gefangen sind.
Stephan Reich, 1984 in Kassel geboren, lotet in seinen kühlen Gedichten, in seinem Debüt-Band »Everest« all jene Orte aus, an denen der Mensch versagt, scheitert, zerbricht.
Es sind klare Mitteilungen, einfache Feststellungen, gehalten in transparenter Sprache, in einer schwermütigen Melodie – und doch entwickeln diese Gedichte eine eigenwillige Wärme, einen ungeheuren Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Und man taucht sogleich tief ein, mindestens 20 Meter unter den Meeresspiegel, mit einem Gedankenspiel über den Tod des französischen Apnoe-Tauchers Loïc Leferme, der bei einem Übungstauchgang bei Villefranche-sur-Mer verunglückte. »43° 42′ 15″ N, 7° 18′ 42″ E« nennt Reich sein Gedicht und begibt sich damit auch sprachlich in die Schwerelosigkeit des Wassers: »öffnest die tiefe wie einen reißverschluss«, heißt es da ganz am Anfang, das Gedicht setzt da an, wo die ultimative Tiefe beginnt, direkt unter der Wassernaht, die Reich mit seinen Worten durchbricht. Der Taucher begibt sich auf sein letztes Abenteuer, Reich folgt ihm, bis zu jenem Punkt, an dem ihn das Bewusstsein verlässt. Es gibt hier keinen Überlebenskampf, sondern ein sanftes Hinausgleiten, bis am Ende das Licht gelöscht wird.
In der vorletzten Strophe, einer der schönsten Strophen des gesamten Bandes, heißt es: »& in der ferne entzünden sich fische, wie lampions pulsieren quallen & du möchtest krill sein, eine substanz, leichter als flüssiges salz.« Eine wunderschöne Auflösung im Nichts.
Es ist genau jener Raum, in dem die Gedichte von Reich ihre schillernden, flirrenden Vibrationen auslösen – im Nichts, am Ende, dort, wo der Mensch am Abgrund steht oder ihn gerade überschritten hat.
In rund 50 Gedichten lotet Reich die finale Einsamkeit des Menschen aus und löst damit beim Leser einen Schwebezustand aus. Dieses schmale, unscheinbare Bändchen, das legt man jedenfalls so schnell nicht aus der Hand, selbst wenn man mit beiden Beinen auf dem Boden steht.
43° 42′ 15″ N, 7° 18′ 42″ E
öffnest die tiefe
wie einen reißverschluss,
eine weiche, wässrige naht
trägst die strömung als haut & den kopf
in den wolken
eines inversen himmels
tauchst du ab, bist das eo
in neopren: dorthin, bis zu diesem punkt
eines absolut geraden labyrinths.
aber es gibt keinen erdkern, nur
den weg dahin & du
konjungierst die blautöne,
vollziehst diese eine bewegung: wie es sich anfühlt
etwas vollkommen loszulassen
& in der ferne entzünden sich fische
wie lampions pulsieren quallen & du
möchtest krill sein, eine substanz, leichter
als flüssiges salz.
zieh an der kordel.
lösch das licht.
Stephan Reich: Everest. Mit Illustrationen von Ludmilla Bartscht. Verlagshaus J. Frank: Berlin 2014.