Literaturkritiker Denis Scheck brachte auf der Frankfurter Buchmesse auf den Punkt, was alle dachten: »Die Welt geht unter, im Suhrkamp Verlag erscheint eine Graphic Novel!« Nun hat sich die Welt seitdem glücklicherweise doch noch etwas weitergedreht, sodass wir die Zeit fanden, uns jenes Werk einmal genauer anzusehen. Bei dieser wellenschlagenden Graphic Novel handelt es sich um »Kiesgrubennacht«, die Autobiographie  von Volker Reiche. Dieser sollte den meisten noch für seine Comic-Strip-Reihe »Strizz« in der FAZ bekannt sein, in welcher der gleichnamige Büroangestellte seinen Vorgesetzten mit ausgeflippten Ideen immer wieder auf die Palme bringt. »Kiesgrubennacht« ähnelt der Reihe auf den ersten Blick sehr, vor allem der Zeichenstil ist nahezu derselbe.

Doch sollte man sich nicht von den heiter anmutenden Bildern auf den Holzweg führen lassen. Denn Reiche, Jahrgang 1944, verarbeitet in »Kiesgrubennacht« in erster Linie seine Kindheit in der Nachkriegszeit. Er wird als drittes von fünf Kindern in eine klassische deutsche Familie geboren, in welcher der Vater ein Nazi war und die Mutter immer wieder schlug. Die Idee, über den zweiten Weltkrieg und andere heikle Themen in Form einer Graphic Novel zu berichten, ist zwar seit »Maus« von Art Spiegelmann eine gerne und oft genutzte Methode, doch bisher beschränkte sich die Perspektive meist auf eine neutrale Sicht oder aber die Sicht des Opfers – so etwa die Erzählung des ehemals internierten Juden Wladek Spiegelmann in »Maus«. Dass das Kind eines Täters die Geschichte erzählt, ist Neuland und hat insofern auch mit ganz neuen Problemen zu kämpfen. Reiche vollzieht dabei einen genialen Spagat, weder moralisiert er, noch blendet er das Thema völlig aus, er zeigt es so, wie er es damals als Kind tatsächlich wahrgenommen hatte: Ohne die schreckliche Wahrheit zu kennen, allerdings auch nicht völlig blind.

Immer wieder unterhalten sich der kleine Volker und seine Brüder darüber, was denn im Krieg passiert sei, anfangs noch von der Maschinerie fasziniert, wie es alle Kinder sind, später etwas skeptischer und nüchterner. Für Reiche tritt der Wendepunkt ein, als er Eugen Kogons »Der SS-Staat« liest, damals das erste analytische Werk über den Nationalsozialismus. Der Junge ist schockiert von der ausufernden Grausamkeit der Deutschen Offiziere und beschließt, seinen Vater danach zu fragen. Doch die Eltern trennen sich und zu dem klärenden Gespräch kommt es erst über zwanzig Jahre später. Doch selbst dann schafft es der nun erwachsene Reiche nicht, den alten Mann dazu zu bewegen, seine Geschichte zu erzählen, ein Problem, das viele Nachkriegskinder mit ihren Vätern hatten. Einzig die »Kiesgrubennacht« kommt zur Sprache, eine Nacht, in welcher die Nationalsozialisten stundenlang Menschen hinrichteten. Der Vater war damals als Kriegsberichterstatter dabei, jedoch bleibt bis zum Schluss unklar, inwieweit er beteiligt war.
Er ist nicht Wladek Spiegelmann, der um die Wahrheit bemüht ist, ganz im Gegenteil: Volker Reiche muss sich am Ende geschlagen geben und einsehen, dass er diese Seite seines Vaters wohl nie beleuchten wird. Was ihm allerdings auch nicht sonderlich nahe zu gehen scheint, da sein Vater ihm quasi ein Fremder ist. Diese und andere Begebenheiten werden nicht in der Geschichte selbst erörtert, sondern in der Rahmenhandlung, in welcher der heutige Volker Reiche sich mit seinen Figuren aus »Strizz« unterhält, mit dem Kater Herrn Paul (dessen Züge und Verhalten selbst ein wenig an den Diktator Hitler erinnern), mit den Hunden Tassilo und Müller. Diese Episoden sind zwar an manchen Passagen unerlässlich zur Erörterung des Geschehens, das der junge Volker Reicher noch nicht begreift, leider fallen sie ein wenig aus der ansonsten sehr packenden Atmosphäre. Vielmehr sieht man einem Erwachsenen zu, wie er Videospiele spielt, spazieren geht und sich mit Tieren unterhält, dabei seitenweise Monologe über das Recht und Unrecht des Zweiten Weltkriegs hält. Das wirkt – auch wenn die Intention wahrscheinlich eine andere war – wie ein etwas hilfloser Versuch, die Kindheitserlebnisse in einen größeren Kontext zu setzen, als sie benötigen. Gerade weil auf diesem Gebiet bereits Werke existieren, muss sich »Kiesgrubennacht“ an ihnen messen lassen, wobei dies nicht sonderlich fair wäre, denn letztlich hat dieses Werk eine andere Motivation als beispielsweise »Maus«.

Reicher wollte vermutlich gar nicht über die Rolle seines Vaters im Nationalsozialismus schreiben, es war aber nun einmal ein Bestandteil seiner Kindheit, etwas das ihn geprägt hat. Das Thema des Buches ist aber vielmehr, wie Reiche zum Zeichnen fand und an dieser Stelle leistet es gute Arbeit, denn man kann dem kleinen Jungen bei seinen ersten Versuchen über die Schulter sehen, liest mit ihm seinen ersten Donald-Duck-Comic (Reiche zeichnete später selbst auch die berühmte Ente) und wird Zeuge, wie der erwachsene Reiche die dunkle Thematik seiner Jugend – den zweiten Weltkrieg – in einer düsteren Bilderserie verarbeitet. Somit ist »Kiesgrubennacht« vielleicht nicht das idealste Zeitzeugnis über den Nationalsozialismus, es ist aber definitiv der interessant dargestellte Werdegang eines der bedeutsamsten Comic-Zeichners Deutschlands.

 

 

 

Weitere Informationen gibt es hier:

http://www.suhrkamp.de/graphic-novel/volker-reiche/kiesgrubennacht_1088.html

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