Nach der Kür kommt die Lesereise: Die vier Gewinner des diesjährigen »open mike«-Literaturpreises der Berliner Literaturwerkstatt kamen bereits einen Tag nach der Preisverleihung nach Frankfurt um ihre prämierten Texte vorzustellen. Entsprechend angespannt war die Stimmung im Orange Peel, gelegen zwischen dem Frankfurter Hauptbahnhof und dem verlassenen Occupy-Camp am Willy-Brandt-Platz: Funktionieren die Texte auch außerhalb des Wettlesens? Und – um Himmels willen – was rückt da nach, an jungen, talentierten, spannenden, interessanten Literaten? Rückt da überhaupt was nach?
Frankfurt wollte es wissen und rückte mit rund 100 Literaturfreunden an. Christian Metz, an der Uni Frankfurt als Guru für junge, deutschsprachige Literatur bekannt, führte durch den Abend. Eloquent, informiert und neugierig. Begrüßung. Nervöses Nesteln, leises Räuspern: Sandra Gugić, Juan S. Guse, Joey Juschka und Martin Piekar blicken ins Publikum, greifen ihre Texte.
Juan S. Guse, ein nüchterner, belesener junger Mann, liest los: Sein Text heißt »Pelusa« und erzählt von Zivilisationsflucht, einer konsequenten Isolation im Nirgendwo in Peru. Der Protagonist übt sich im Warten auf den Postboten. »Die Briefe von Kleist an seine Geliebte haben mich auf diese Idee gebracht. Ich verstehe es als Studie«, sagt Guse nach seiner Lesung. Das Publikum applaudiert dem wortgewaltigen Text lautstark zu. Der Schriftsteller beruft sich auf Robert Walser. Niemand hat Einwände.
Der Lyriker Martin Piekar macht sich bereit. Er sieht Antony Hegarty ähnlich, hat aber eine feste, charismatische Stimme, mit der er seinen »Bastard-Zyklus« vorträgt. Die Gedichte berühren, sie gehen unter die Haut. Das Publikum schweigt andächtig. Die Gedanken des Tages: weggeblasen. Mit Piekar kann man auch in Zukunft rechnen. Christian Metz will mit dem Lyriker über seine Gedichte sprechen. Der wiegelt ab: »Das Gedicht steht doch da. Es steht alles da.«
Weiter geht’s: Sandra Gugić liest mit österreichischem Akzent ihre Kurzgeschichte »Junge Frau, undatiert«. Es ist ein Stillleben, dieses Porträt einer Frau, die sich als Untermieterin in kurzzeitig verlassene Wohnungen einmietet. Viel Platz, genaue Beobachtungen, kaum Handlung. »Ich habe gelernt: Wer jemandem länger als sechs Sekunden in die Augen schaut, der will Sex oder Mord.« Gugić schreibt an einem Roman, »der mit diesem Text nichts gemein hat. Ich probiere gerne aus.« Das kann was werden.
Zum Abschluss, zum Finale, liest Joey Juschka. Die Schriftstellerin bietet im Internet Texte auf Wunsch an. Ab 200 Euro kann man sich was schreiben lassen. Ihren Text »SCHAF e.V.« hat sie jedoch aus eigenem Antrieb heraus geschrieben, um beim »open mike« mitzumachen. Ein leichter Text, beinahe humoristisch. Doch – Holzauge sei wachsam – mit doppeltem Boden. Ein junger Berliner spürt allein laufenden Frauen nach und beschützt sie vor Anmachsprüchen von der Seite. Das Publikum ist selig. »Ich fühle mich als Frau oft unsicher, wenn ich durch die Stadt laufe«, gibt Juschka zu. Den Männern geht’s ähnlich.
Das Auditorium befindet: Die Preisträger sind würdig. Und was da noch von ihnen kommt, das liegt sowieso in deren Händen. Christian Metz wünscht zum Abschluss: »Guten Heimweg.«
Der »open mike«-Wettbewerb der Berliner Literaturwerkstatt gilt als wichtigster Preis für deutschsprachige Nachwuchsschriftsteller, rund 700 Texte werden jährlich eingereicht. Eine Jury wählt rund 20 Einsendungen für die Finalrunde aus. Die Autoren lesen ihre Texte in Berlin vor Publikum, eine weitere, zumeist prominent besetzte Jury bestimmt die Gewinnertexte. Zudem wird ein Publikumspreis ermittelt, der in diesem Jahr an Joey Juschka vergeben wurde.