In der Schule wurde »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque gelesen und wir wunderten uns: Wieso zogen unsere Urgroßväter einst freiwillig in den Krieg? Mein Großvater wusste die Antwort, doch statt sie zu sagen, mir von seinem eigenen Vater zu erzählen, drückte er mir ein Buch in die Hand: »In Stahlgewittern« von Ernst Jünger. Ich war 14 Jahre alt, rannte Fußbällen hinterher und hörte Oasis. Aus dem Nichts drang dieses schmale Büchlein also in mein Leben und veränderte mich. Atemlos las ich abends im Bett von der Ankunft in Bazancourt, von Grabenkämpfen und Tapferkeitsauszeichnungen. Ich las von Kopfschüssen und Blut, von Maschinengewehren und dem Somme-Rückzug. Ich las von einem Mann, der die Wirrungen des Ersten Weltkriegs mit scharfen Sinnen, mit Ablehnung, Neugier und Entschlossenheit beschrieb.
Ich konnte dieses Buch nicht aus der Hand legen, ich konnte mich nicht davon lösen, so sehr zog es mich in einen seltsamen Bann der Faszination, des Unverständnis, des Ekels, des Schauers.
Die Aufzeichnungen »In Stahlgewittern« gelten auch heute, fast 100 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, als zentrale literarische Aufnahme des Ersten Weltkriegs.
Die Tagebuchaufzeichnungen, die Jünger während seiner Zeit als Soldat an der Front in Frankreich von 1915 bis 1918 verfasst hat, berichten aus der Perspektive eines zunächst naiven deutschen Kriegsfreiwilligen, der sich nach einer schweren Verwundung im Grabenkampf in der Champagne zum Infanterieoffizier weiterbilden lässt und in den Stellungskrieg von Arras zieht. Mit mehr Glück als Verstand überlebt Jünger als Stoßtruppenführer an der Front und verfällt einer seltsamen Kriegs-Ekstase. Soweit – so bekannt.
Der Verlag Klett-Cotta hat nun eine umfangreiche, wunderbar aufbereitete historisch-kritische Ausgabe der Aufzeichnungen »In Stahlgewittern« vorgelegt. Darin werden die insgesamt elf Überarbeitungen und sieben veröffentlichten Fassungen des Werks gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, wie sehr Jünger die Deutungshoheit über sein Werk behalten wollte, schließlich retuschierte der Schriftsteller zeit seines Lebens an den Fassungen seiner Aufzeichnungen herum. Und so ist der Text kaum zu fassen, so ist in ihm nur eine literarische und keine weltliche Wirklichkeit zu finden.
Der Germanist Helmuth Kiesel hat diese editierte Auflage betreut und damit eine grandiose Arbeit geleistet: So wird man Zeuge, wie Jünger seinen Text dem Zeitgeist und damit auch seiner jeweiligen politischen Überzeugung entsprechend angepasst hat. Kiesel stellt die editierten Texte der Erstveröffentlichung gegenüber. Anhand farbiger Markierungen kann man erkennen, wie aus überlebensgroßen »Helden« kleine »Männer« werden, wie eine Gedächtnislücke in der ersten Fassung plötzlich vier Jahre später ausgefüllt wird: »Das verspritzte Blut war noch in großen braunen Flecken an den Brettern der Verschalung zu sehen.«
Der Lesefluss wird dabei nicht gestört, viel mehr hat man das Gefühl durch die Geschichte zu spazieren, der Wahrheit Seite für Seite ein bisschen mehr auf die Schliche zu kommen. Wird »In Stahlgewittern« auch immer umstritten bleiben (kriegsverherrlichend oder kriegsablehnend?), so hat Kiesel mit seiner editorischen Arbeit ein grandioses Werk geleistet:
Diese historisch-kritische Ausgabe ist ein großes Glück – nicht nur für Jünger-Fans. Denn sie zeigt, wie Literatur im besten Falle funktioniert: Als Spiegel der Wirklichkeit.
Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Helmut Kiesel. Klett-Cotta: Stuttgart 2014.