Um sämtliche Missverständnisse gleich zu Beginn aus dem Weg zu räumen: Das kürzlich im Rowohlt-Verlag erschienene »Morphin« ist keineswegs die Fortsetzung von M. Agejews »Roman mit Kokain«. Vielmehr handelt es sich bei Szczepan Twardoch um einen Autor der Gegenwart, der die Handlung seines Erstlings ins Warschau am Ende der 30er Jahre versetzt, der goldenen Ära des Morphins. Protagonist Konstanty Willemann, von seinen Freunden kurz Kostek geheißen, erwacht eines Morgens, verkatert und hungrig, die Deutschen haben Polen gerade überrannt und für einen Reserveoffizier wie Kostek gibt es kaum etwas zu tun. Also besucht er die Cafés, in denen die geschlagenen Generäle und Majore schon über den Befreiungskrieg fachsimpeln, sieht sich die jüdische Oberschicht an, die mit bereits gepackten Koffern versucht, letzte Wertgegenstände gegen Bares einzutauschen und wandert die Straßen des zerstörten, »vergewaltigten« Warschaus hinunter.

Twardochs unglaubliche Leistung besteht darin, bis ins kleinste Detail jenes Polen im Krieg zu beschreiben, sodass man als Leser den Eindruck gewinnt, es handele sich um den Bericht eines Zeitzeugen. Von der brüchigen Atmosphäre zwischen Nationalismus und Verzweiflung bis hin zur Pomade, die sich der Protagonist in die Haare schmiert – alles wirkt stimmig und authentisch. Zumindest, bis zum ersten Mal Morphin konsumiert wird. Dann bekommt der Deckmantel eines autodiegetischen Berichts plötzlich Risse und eine neue Erzählerfigur betritt den Roman.

Für zwei etwas wenig, aber Sala wird nicht so viel nehmen, es wird schon reichen. Allein will ich nicht. Einsam ja, mit Morphin ist man immer einsam, aber nicht allein.

Kostek wird fortan immer wieder aus der dritten Person beschrieben, von einer Art ätherischem Wesen, das über allem zu schweben scheint und offenbar ungetrübten Blick in Zukunft und Vergangenheit hat. Mehr als einmal fühlt man sich an Kurt Vonneguts »Schlachthof 5« erinnert, wenn bei einer auftretenden Figur nicht nur die Attribute beschrieben werden, sondern auch gleich das folgende Leben der nächsten Jahrzehnte. Meist enden die Charaktere elendig, sterben einsam und alleine einen grausamen Tod. Generell finden sich »Morphin« wenige, die nicht gezeichnet sind, sei es vom Krieg, von der Liebe oder vom Rauschmittel. Konstanty Willemann vereinigt dabei idealerweise alle nur möglichen Formen der Zerrüttung, ist nach eigener Aussage ein Feigling, Morphinist, Schürzenjäger und Mörder.

Dennoch kommt man nicht umhin, ihm Sympathie entgegenzubringen, oder zumindest Mitleid, wenn er durch die Stadt torkelt, verdreckt und verprügelt, die Adern voll mit Morphin. Er stellt den unmittelbaren Spagat eines tragischen Helden dar, ist weder ein Unschuldslamm wie Paul Bäumer in Remarques »Im Westen nichts Neues«, noch ein verkommener Drogensüchtiger wie Wadim Maslennikow im »Roman mit Kokain«. Im Verlauf des beinahe 600 Seiten starken Romans gewinnt er mit seiner intelligenten Art das Herz des Lesers ebenso oft, wie er es durch seine drogenabhängige Naivität verspielt. Doch das Spritzen von Morphin ist nicht die einzige Beschäftigung, welcher der Protagonist nachgeht, nebenbei versucht er noch, sein Leben in den Griff zu bekommen, das ebenso in Trümmern liegt wie Warschau, allerdings ganz ohne Krieg.So führt der Versuch, Frau und Sohn zurückzugewinnen, zu einer unangenehmen Situation nach der nächsten, Kostek begegnet seiner Mutter wieder, einer eisernen Matriarchin und schließt sich sogar dem polnischen Widerstand an.

Im Zuge dieser Entwicklung erfährt der Leser viel über die Verworrenheit des Krieges, durch die es mit einem Mal nicht mehr so einfach ist, zwischen den Fronten zu unterscheiden. Während die Deutschen in Warschau noch als die »Morphin« Besatzer auftreten, zeichnet sich am Horizont in Form der Sowjetunion jene Kraft ab, die Polen wesentlich härter treffen wird als es jeder Krieg vermag. Gerade im momentanen Diskurs russischer Hegemonialpolitik wirkt der historische Abriss wie eine sanfte Erinnerung, denn auch im Warschau des Jahres 1939 ahnten nur die wenigsten, was ihnen in den kommenden Jahren blühte. Somit ist »Morphin« ein Roman über den Krieg und darüber, wie man versuchen kann, ihn zu verarbeiten. Er ist aber viel mehr als das: Er ist das Spiegelbild einer zerschmetterten Generation, eine Chronik des Widerstands und das Lebenszeugnis eines bekennenden Morphinisten. Und nicht zuletzt ist es die Geschichte von einem verlorenen Sohn, der seinen Vater wiederfindet.

Szczepan Twardoch: Morphin. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin: Berlin 2014.

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