Man könne, schreibt David Wagner, »mit diesem Büchlein in der Hand auch sehr bequem auf dem Sofa liegend durch Berlin spazierengehen«. Das stimmt. »Welche Farbe hat Berlin« (ohne Fragezeichen!) ist ein so großartiger Reiseführer, dass er das Reisen selbst beinahe überflüssig macht. Wie Wagner mit wachem Auge und noch wacherem Geist die Straßen der bundesdeutschen Hauptstadt durchwandert und Eindrücke und Erlebnisse sammelt, ist von einer vordergründigen Einfachheit, hinter der sich aber großes Können verbirgt. Mag man anfangs noch denken, all die Skizzen, Notizen, Miniaturen und Anekdoten seien so schnell wieder vergessen, wie sie gelesen sind – bereits noch wenigen Seiten wird man den eigenen Irrtum erkennen. Dann nämlich hat einen das Buch schon um den Finger gewickelt – und man möchte auch gar nicht mehr davon loskommen, sondern kommt der Einladung zur literarischen Erkundungsreise freudig und gespannt nach. Dabei geht es dem kundigen Reiseführer kaum anders, auch er ergibt sich letztlich einem unwiderstehlichen Ruf. Dem Ruf einer Stadt. Wagner geht also los, und allen Beteuerungen zum Trotz – »Am besten geht es sich doch allein« – nimmt er den Leser mit.

Ich wollte gar nicht spazieren gehen, ich bin heute schon unterwegs gewesen, ich wollte nur den Müll hinuntertragen. Scheint so, als hätten meine Schuhe ohne mich entschieden. Sie sind einfach losgegangen. Das Gehen hat sich verselbstständigt, und ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich s
elbst, ob tatsächlich ich es bin, der hier einen Fuß vor den anderen setzt. Geht die Stadt vielleicht mit mir spazieren?

Woher dieser Ruf kommt ist unerheblich. Die Faszination Berlins wird hier nicht trocken erklärt, sondern literarisch-sinnlich erfahrbar gemacht. Bei aller auch analytischen Brillanz vermitteln die Texte zuallererst ein Gefühl, eine Stimmung. Wie es auch nicht um das Ankommen geht, sondern um das auf-dem-Weg-sein, um das ziellose Schlendern, auch um das Herumirren, das Verlorengehen – mal allein, mal in Begleitung. Wagner hat den Blick des Flaneurs, der auch den kleinsten, beiläufigsten Dingen und Ereignissen seine Aufmerksamkeit schenkt und ihnen eine unvermutete Schönheit entlockt. Die allzu offensichtlich touristischen Hotspots meidet Wagner, erwähnt sie wenn überhaupt nur am Rande. Nicht das Brandenburger Tor, der Reichstag oder das Schloss Bellevue bilden die Wegmarken seiner Wanderungen.

»Keine großen Sehenswürdigkeiten« heißt ein Text, dem entgegen der ersten Vermutung gar nichts fehlt. Denn lieber als zu must-sees aus dem ADAC-Reiseatlas nimmt Wagner den Leser mit auf eine spontane Erkundungstour durch Bezirke, Parks und Wälder, zu verlassenen Bahnhöfen und idyllischen Seen. Und wenn es dennoch zu den großen und geschichtsträchtigen Orten geht, dann sind selbst diese Besuche von einer angenehmen Ungezwungenheit und kommen ganz ohne die üblichen Klischees und Phrasen aus. Man lese nur den träumerischen Rundgang über die Pfaueninsel. Oder den schlicht »Mahnmal« betitelten Text, der so weit als irgend möglich entfernt ist vom verordneten, hohlen Gedenkkitsch und stattdessen ganz auf die sinnliche Kraft des Ortes vertraut.

Sehr glatt und scharfkantig stehen sie da, die Stehlen aus grauem Beton, manche unmerklich, andere stärker geneigt. Bedrohlich wirken sie nicht. Ihre Glätte macht sie zu sympathischen Riesen. Sie zu berühren, ist erlaubt. […]

Da stehen Steine, die erinnern. Und zwischen ihnen stößt man auf den Schmerz und vielleicht eben auch auf die Scham über all unsere deutschen Verbrechen. Und vielleicht kann man sich beim Blick auf die umliegenden protzigen Landesvertretungen, die Türme des Potsdamer Platzes und die Rückseite des Hotels Adlon fragen, ob all dieser Neuberliner Nachwendeprunk nicht auch auf den Leichen errichtet wurde, an die hier erinnert wird.

»Welche Farbe hat Berlin« erzählt von einer Stadt im permanenten Wandel, die Gegenwart nur ein flüchtiger Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sorgsam notiert Wagner die kleinen Veränderungen im Bild der Stadt, gibt Rückblicke und manchmal auch Ausblicke. Die Geschichte ist – wie könnte es bei einem Berlinbuch auch anders sein – allgegenwärtig, indes gewinnt sie nie die Überhand, wirkt an keiner Stelle erdrückend. Keine Nostalgie, stattdessen die kühle Distanz eines wachen Beobachters. Und ebenso mühelos integriert Wagner das literarische Berlin, wenn er etwa mit Fontane unterm Arm den Stechlin besucht. Man nimmt dem Wahlberliner Wagner jederzeit ab, dass er sich auskennt, sowohl geografisch-geografisch als auch literarisch-geografisch. Mit so jemand begibt man sich gern auf die Reise.

David Wagner: Welche Farbe hat Berlin. Verbrecher Verlag: Berlin 2013.

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