Ein Park irgendwo in Japan als Schauplatz einer zaghaften Begegnung. Zunächst sind es noch zwei Bänke, auf denen die beiden Männer sitzen, jeder für sich allein. Von seiner Bank aus beobachtet der Erzähler, ein menschenscheuer junger Mann namens Taguchi Hiro, über Tage hinweg, wie ein alternder Büroangestellter Stunde um Stunde auf der gegenüberliegenden Bank verbringt, mit Zeitung lesen, Vögel füttern, Löcher in die Luft starren, schlafen. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, sitzt er dort und vertreibt sich so die Zeit. Zwischendrin wird er von Tränen übermannt. Weil der Erzähler den Namen des Fremden aber anfangs nicht kennt, muss dessen charakteristisches Kleidungsstück, eine rotgrau gestreifte Krawatte, als Namensgeber herhalten. »Ich nannte ihn Krawatte« ist das dritte Buch der jungen österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar und trotz der wenigen beschriebenen Seiten eine große Sensation.

Ich nannte ihn Krawatte.

Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.

Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.

In poetischen Bildern und glasklar entrückter Sprache erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« vom Schicksal der beiden Männer und wie sie sich näher kommen, kennen lernen, anfreunden. Ganz ohne Effekthascherei, dabei aber höchst effektiv, genügen wenige Worte um ein subtiles Gefühl der Melancholie zu evozieren, ja mithin schon ein Versprechen zu geben auf das, was da noch kommen wird: keine heitere Geschichte. Nicht nur, dass der Fremde von tiefer Trauer und Unglück gezeichnet scheint. Auch der bisherige Lebensweg des Erzählers gleicht einer kleinen, privaten Tragödie. Denn die letzten zwei Jahre verbrachte er allein und abgeschottet in seinem Zimmer im Haus der Eltern, ohne Kontakt zur Außenwelt. »Hikikomori« nennt man diese überwiegend jugendlichen oder jungen Exilanten, die für Monate oder gar Jahre die Flucht ins Allerprivateste antreten. In Japan ist das längst ein Massenphänomen, die Schätzungen reichen bis hin zu einer Million Betroffener, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte.

»Ich nannte ihn Krawatte«
»Ich nannte ihn Krawatte«

Im Gespräch mit Krawatte legt Taguchi langsam seine Ängste ab, er tritt den schwierigen und langen Weg zurück in die Gesellschaft und in seine Familie an. Parallel erzählt er, wie es dazu kam, dass er eines Tages mit den Worten »Ich kann nicht mehr« in seinem Zimmer verschwand, das fortan für zwei Jahre zu seiner Höhle, seinem Zufluchtsort werden sollte. Es ist eine berührende Geschichte über die eigene Scham und den Verlust eines geliebten Menschen, welcher Krawatte aufmerksam folgt. Umgekehrt erzählt Krawatte aber auch von sich, dass er seine Arbeit verloren hat und sich nicht überwinden kann, es seiner Frau zu sagen. Stattdessen verlässt er weiterhin täglich zur gewohnten Zeit das Haus, doch anstatt ins Büro geht er in den Park. Scham und Angst, auch auf dieser Seite der Parkbank. Im Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können, sind der Hikikomori und Krawatte verbunden, und eben diese Verbundenheit gibt ihnen Halt.

Wir sagen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge gerade zu biegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren.

Die große Stärke des Romans besteht zweifellos darin, dass er ohne jede Sentimentalität von zwei Existenzen erzählt, die im Jargon der so genannten Leistungsgesellschaft als »gescheitert« gelten dürften. Er erweckt kein Mitleid, aber er gibt Hoffnung. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber die Erinnerung, die im gegenseitigen Erzählen festgehalten ist, spendet immerhin Trost. Eingeschlossen in Melancholie und Traurigkeit zeugt »Ich nannte ihn Krawatte« so vom Willen, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge weiterzumachen, und verbreitet einen zarten Hauch von Optimismus. »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden«, heißt es bei einem anderen großen Österreicher. Flašars Figuren sind am Ende einen Schritt weiter, auch wenn sie nur eines gelernt haben: »Dass es sich lohnt, am Leben zu sein«.

 

Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  

 

Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«. Wagenbach: Berlin 2012. 

Rainald Goetz wütet wieder, nicht jedem gefällt das. All der Spott, die Verachtung, die »Denunziation seiner Figuren«, auf die Dauer kann das ziemlich anstrengend werden. Man vergisst dann beinahe, dass es nie wirklich anders war und dass das genüssliche Auskotzen von Hass, Hass und noch mehr Hass bei Goetz einfach dazu gehört. Ja, Empathie ist seine Sache nicht unbedingt, aber braucht die Literatur das Mitgefühl? Oder entstehen die besseren Bücher nicht gerade aus der Weltverachtung heraus, wohlgemerkt aus der Verachtung einer ganz bestimmten Welt, in diesem Fall der Welt des Kapitals? Um eben jene alles verdummende und erniedrigende »Herrschaft des KAPITALS« dreht sich »Johann Holtrop«, Goetz‘ jüngster Roman über den Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Medienkonzerns namens Assperg AG. Der Protagonist, besagter Johann Holtrop ist ein egomanisches und narzisstisches Arschloch, aber immerhin ist er nicht allein. Seine Kollegen, Geschäftspartner, Konkurrenten und Rivalen stehen ihm in Puncto Niederträchtigkeit und Stumpfsinn in nichts nach, weshalb es aber nicht schade ist, wenn Holtrops Untergebene – »Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe«  – von diesem ohne Umschweife in Gedanken zur Altglassammlung verfrachtet werden. Zwischendrin macht auch der Erzähler immer wieder unmissverständlich deutlich, was er von dieser Entourage, inklusive Holtrop, hält: Trottel, Deppen und Nullen aller Art bilden das Personal des Romans, dass es nur so eine Freude ist.

Das wäre doch das Ideal: aus der Normalität des realen Lebens heraus eine maximal asoziale Kunst zu machen, Sozialtextkunst.

(Rainald Goetz: »Klage«)

So steht es geschrieben, datiert auf den 19. April 2007, in »Klage«, dem Eröffnungsband des Werkteils »Schlucht«, also dem Vorvorgänger von »Johann Holtrop«. Zuvor geht es wie so oft um Thomas Bernhard, der, so Goetz‘ Erzähler, »den widernatürlichsten und schönsten Entwicklungsweg« genommen habe: »immer platter, immer deutlicher, immer zugänglicher«. »Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung«, so hat Bernhard die Maxime seines Lebens und Schreibens einmal zusammengefasst. Auf Goetz trifft das ebenfalls zu, aber »Johann Holtrop« ist noch mehr. Der Roman verbindet eine bernhardeske Lust am Wüten mit einem unbedingten Erkenntnisauftrag. Es gilt auch weiterhin Satz #1 der Goetzsatzung: Ziel ist das »wirklich wahre Abschreiben der Welt«. Eine Zeit lang nannte man das Pop, vielleicht sollte man aber besser von einem reflektierten Realismus sprechen, der das eigene Sich-Aussetzen, das Eintauchen in fremde Milieus und Diskurse  zum Mittel der Welterfahrung macht.

Im Grunde ist Goetz ein Aufklärer, ein letzter Moralist in einer unmoralischen Welt. »Johann Holtrop« malt das Panorama eines kaputten Systems, in dem Gier und Machtstreben Menschlichkeit und Ratio längst ersetzt haben, und gibt kurzweilige Einblicke in die Psychoarchitektur der Machtelite. Die Handlung setzt kurz nach dem 11. September 2001 ein, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG erreicht gerade den Zenit seiner Macht. Die Menschen in seiner Umgebung verachtet er ebenso sehr, wie diese dem aufstrebenden Holtrop die Anerkennung und den Erfolg missgönnen. Dann geht die Wirtschaft den Bach runter und parallel dazu folgt der sukzessive berufliche und persönliche Abstieg Holtrops bis zur vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie, womit sich gewissermaßen der Kreis schließt zu »Irre«, Goetz‘ gefeiertem Debüt von 1983. Bis es aber soweit ist, kann der Leser sich rund dreihundert Seiten lang an ausufernden Satzungetümen erfreuen, gespickt mir absurd übersteigerten Neologismen, all das wohlgemerkt höchst virtuos inszeniert. Der Goetzkenner kennt das nicht anders, aber doch wird auch er hier nicht selten an Bernhard erinnert werden  – schließlich macht die Lektüre fast genauso viel Spaß.

Rainald Goetz:  »Johann Holtrop«
Rainald Goetz: »Johann Holtrop«

»Johann Holtrop« nennt sich Roman, aber Gattungsangaben dieser Art sind bei Goetz wenn überhaupt als grobe Empfehlung zu verstehen, siehe das Internettagebuch »Abfall für alle«, der »Roman eines Jahres«. Und darum wird in Besprechungen und Rezensionen bereits munter spekuliert, welche realen Personen sich hinter der literarischen Verkleidung verbergen, wer hier wie und warum gedisst wird. So erwartbar, so langweilig. Spannend wird es, wenn man »Johann Holtrop« als Ganzes nimmt, nicht als Beschreibung einer Person, sondern als genuin künstlerische Annäherung an die Mechanismen und Folgen einer Produktions- und Wirtschaftsweise. Und siehe da, realiter die gleiche Undurchsichtigkeit, der gleiche Irrsinn wie in echt. Warum die Personen so handeln wie sie handeln, und wie sie handeln, soll heißen: was sie tun, wissen weder sie selbst noch der Leser. Klar wird nur, dass die schöne neue Welt des Kapitalismus schlussendlich im Chaos versinkt, zusammen mit dem Protagonisten, naturgemäß und verdientermaßen. Aber in der wenig versteckten Genugtuung ob Holtrops Untergang steckt der Haken: Goetz‘ Furor ist der Ohnmacht geschuldet, nichts ausrichten zu können. Es ist nicht der Erzähler, der Holtrop zu Fall bringt, sondern eben jenes System, das ihn erst nach oben gespült hat. Der Gegenwartschronist spuckt Gift und Galle, nicht weil er verachtet, was er zu beschreiben verdammt ist, sondern weil er zusehen muss, wie alles auch weiterhin seinen Lauf nimmt. Keine Illusionen, nur mehr Wut, das ist die bittere Konsequenz. »Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu.« Auch so ein Bernhardsatz.

 

Rainald Goetz (geb. 1954) ist promovierter Mediziner und Historiker und ein maßgeblicher Protagonist der so genannten Popliteratur der 80er und 90er Jahre. Zum Werkteil »Schlucht« gehören außer »Johann Holtrop« die Bände »Klage« (2008), »loslabern« (2009), »elfter september 2010« (2010), »D.I.E abstrakte« (2010, zusammen mit Albert Oehlen), »Kapitalistischer Realismus« (2010) sowie »politische fotographie« (2011). »Johann Holtrop« schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  


Rainald Goetz: »Johann Holtrop«. Suhrkamp: Berlin 2012. 

 

Der Kreis der potenziellen Preisträger wird kleiner. Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012, die heute vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt gegeben wurde, finden sich noch sechs Titel, darunter allein drei des Berliner Suhrkamp Verlags. Auch Wolfgang Herrndorf, der für seinen zu recht gefeierten Roman »Sand« bereits den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, ist weiter im Rennen.

Der Gewinner wird bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober bekannt gegeben.

 

 

 

 

 

 

Die Nominierten der Shortlist:

• Ernst Augustin: »Robinsons blaues Haus« (C.H.Beck, Januar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: »Sand« (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Ursula Krechel: »Landgericht« (Jung und Jung, August 2012)

• Clemens J. Setz: »Indigo«(Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: »Fliehkräfte« (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: »Nichts Weißes« (Suhrkamp, August 2012)

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 steht fest. Unter den zwanzig Nominierten finden sich sowohl Newcomer wie Olga Grjasnowa, die mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« für Furore sorgte, als auch alte Bekannte, unter anderem Rainald Goetz, dessen neuer Roman »Johann Holtrop« im Spätsommer erscheinen wird, und Clemens J. Setz, der bereits im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Insgsamt zeichne sich die diesjährige Longlist durch eine verblüffende »Welthaltigkeit« aus, so Jury-Sprecher Andreas Isenschmid: »Kaum eine Dimension, die nicht vorkommt: die große Liebe und der avancierteste Kapitalismus, die Erfahrung des Heiligen so gut wie Schocks der Kälte und Einsamkeit. Unsere zwanzig besten Romane greifen aus: in den Jemen, nach Nordafrika, nach Polen und nach Argentinien, ins gänzlich Imaginierte sowieso.«

Die Shortlist mit verbleibenden sechs Titeln wird am 12. September bekannt gegeben, der Gewinner bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober.

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012:

• Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus (C. H. Beck, Januar 2012)

• Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste (Suhrkamp, Februar 2012)

• Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend (Knaus, September 2012)

• Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte (Wagenbach, Ja-nuar 2012)

• Rainald Goetz: Johann Holtrop (Suhrkamp, September 2012)

• Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt (Hanser, Februar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: Sand (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen (Frankfurter Verlags-anstalt, September 2012)

• Germán Kratochwil: Scherbengericht (Picus, Februar 2012)

• Ursula Krechel: Landgericht (Jung und Jung, August 2012)

• Dea Loher: Bugatti taucht auf (Wallstein, März 2012)

• Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss (Diaphanes, März 2012)

• Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische (Piper, Mai 2012)

• Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck (Luchterhand, August 2012)

• Michael Roes: die Laute (Matthes & Seitz Berlin, September 2012)

• Patrick Roth: Sunrise (Wallstein, März 2012)

• Frank Schulz: Onno Viets und der Irre vom Kiez (Galiani Berlin, Februar 2012)

• Clemens J. Setz: Indigo (Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: Fliehkräfte (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes (Suhrkamp, August 2012)

Update 22.08.2012: Einen schönen und informativen Überblick über die die nominierten Titel inklusive Kurzvorstellung gibt es hier.