2012 war offensichtlich das Jahr der wiederentdeckten Russen. Neben Gaito Gasdanow, dessen Meisterwerk »Das Phantom des Alexander Wolf« nach langer Zeit nun im Hanser Verlag den Weg in die Herzen der deutschen Leser fand, tritt nun ein weiterer Schriftsteller auf, der Gasdanow jedoch nicht unähnlicher sein könnte. M. Agejew ist sein Name, und das ist im Grunde auch alles, was man von ihm weiß: Ein Pseudonym, unter welchem er 1934 sein  erstes und einziges Werk veröffentlichte, den »Roman mit Kokain«. Danach wurde es still um ihn, manche Spekulationen gehen davon aus, dass er bis zu seinem Tod im Jahre 1973 bescheiden als Sprachlehrer in Russland lebte, andere glauben, dass er bereits in den 30er Jahren verstarb.

Der Roman wurde trotz der Ungewissheit seiner Herkunft – oder gerade deswegen – als »eines der überragenden Meisterwerke der modernen russischen Literatur« bezeichnet (NZZ, 2012), der Erfolg ging soweit, dass hinter dem Pseudonym zeitweise Vladimir Nabokov vermutet wurde, was dessen Sohn allerdings dementierte.

Was birgt also dieser »Roman mit Kokain«, der nun 2012 im Manesse Verlag zum zweiten Mal in deutscher Sprache erscheint? Zuerst einige Anmerkungen aus editorischer Sicht:
Wer die Bücher von Manesse kennt, der weiß von der noblen Qualität der kleinen Bände, daher verwundert es nicht, dass Agejews Werk geschmackvoll gebunden und auf dickem, alterungsbeständigem Papier gedruckt in den Händen liegt. Das sind natürlich nur Äußerlichkeiten, aber in Zeiten, in denen Werke von literarischen Giganten wie Umberto Eco wirken, als wären sie auf recyceltem Toilettenpapier gedruckt, sollte man auch so etwas durchaus honorieren. Aber dient das Aussehen hier als Blender um über den schwachen Rest hinweg zu täuschen?

Natürlich nicht, auch in inhaltlichen Aspekten besticht die vorliegende Ausgabe. Während die 1986 im Rowohlt Verlag publizierte Variante aus dem Französischen übersetzt wurde, wird hier direkt auf das russische Original zurückgegriffen, mit einem ausführlichen Anhang von Anmerkungen, editorischen Notizen und einem Nachwort von Karl-Markus Gauß, in welchem das Mysterium um M. Agejew beschrieben wird. Außerdem ist diese Ausgabe die weltweit erste, die den eigentlichen Schlusssatz beinhaltet, den der Autor seinem Manuskript per Post hinterher schickte.

Doch worum geht es eigentlich? Um das Kokain, das der Titel vermuten lässt, dreht es sich erst recht spät, im letzten Drittel. Davor wird von der Schulzeit des Protagonisten Wadim Maslennikow erzählt, von der Konstellation der Klasse, vom Klassenbesten, vom Idioten und dem, was dazwischen liegt. An dieser Stelle gleicht das Werk eher dem Bericht eines Jungen über seine glückliche Jugend, wären da nicht die Passagen, in denen der Protagonist auf die Beziehung zu seiner Mutter eingeht, einer älteren, müden Frau, die alles dafür tut, ihrem Sohn ein angenehmes Leben zu bereiten, von diesem aber nur mit Verachtung gestraft wird. Wadim hasst seine Mutter, hasst die ärmlichen Verhältnisse, aus denen er kommt, verleugnet all das vor seinen Kameraden. Im nächsten Teilabschnitt des Buches sind einige Jahre vergangen, an der Beziehung zwischen Mutter und Sohn hat sich jedoch nichts geändert.
Für den Leser ist es eine regelrechte Tortur, wenn er Wadim zuhören muss, der in sachlichem Ton, ohne einen Anflug von Reue beschreibt, welches Elend die Frau seinetwegen auf sich nähme, um ihm ein paar Rubel auf die Seite zu schaffen, und wie gleichgültig er dieses Geld verschleudere, dass er sich schämen würde, zusammen mit ihr gesehen zu werden. Natürlich liegt nach diesen Zeilen die Möglichkeit nahe, Wadim Maslennikow einfach als Idioten abzuschreiben, ihm einfach nicht mehr zuzuhören, das Buch als ein schlechtes zu erachten und zur Seite zu legen. Doch  so einfach ist das auch nicht, auf irgendeine Weise bleibt man dem Protagonisten verbunden, auch wenn man ihn nicht gerade sympathisch findet. Denn das ist er auf keinen Fall, im weiteren Verlauf des Romans wird er mehr und mehr zu einem hochmütigen Bohemien, zu einem menschenverachtenden Taugenichts, der Frauen mit Geschlechtskrankheiten infiziert, seine Mutter bestiehlt und alles in einem distanziert- gleichgültigen Ton berichtet.

Als er eine Frau namens Sonja kennenlernt, scheint die Liebe der beiden Wadim vorerst vor dem unvermeidlichen Niedergang zu bewahren, denn auch wenn er seine charakterlichen Schwächen beibehält, wird er für Sonja kurz zu einem besseren Menschen. Nach kurzer Zeit schafft er es allerdings, auch Sonjas Liebe und Verlangen zu ihm schlicht und ergreifend zu Grunde zu richten, in dem er sie in nahezu zynischer Weise zu einem Objekt degradiert, ohne dabei etwas wie Lust zu empfinden.

Nachdem er somit wieder ganz allein ist, tritt nun endlich die zweite Hauptfigur auf den Plan: das Kokain. Und der Rest ist schnell beschrieben, Wadim verfällt dem Rausch, dreht sich in endlosen Teufelskreisen zwischen Selbstmitleid, Hass und Ekstase, seine Mutter erhängt sich schließlich vor Kummer und die Aufzeichnungen brechen ab. Im letzten Kapitel wird von einer dritten Person beschrieben, wie Wadim Maslennikow an einem Januarmorgen in ein Militärlazarett eingeliefert wird, sein Körper von der Kokainsucht völlig zerstört. Nachdem man ihm dort nicht helfen kann, lässt man ihn wieder gehen, nur damit er wenig später erneut dorthin zurückkehrt, diesmal tot. Indem er in Wasser aufgelöstes Kokain trank, hatte er seinem nicht lebenswerten Leben ein Ende gesetzt. Der Roman endet mit einer Beschreibung des Inhalts seiner Taschen:

»Das war alles, was Wadim Maslennikow hinterließ, abgesehen von schäbiger Wäsche, zerrissener Kleidung und einem kleinen gelben Glasfläschchen, auf dessen Etikett stand:
I gr.
Cocain hydrochlor
E. Merck
Darmstadt«

Dieses Ende ist der passende Abschluss für den »Roman mit Kokain«, ein trostloses, trauriges Ende, das in gewisser Weise an Goethes »Werther« erinnert, an einen jungen Menschen, der nicht in unsere Welt hineinpassen will (oder kann) und daran zerbricht. Anders als bei dem deutschen Dichterfürsten scheint bei M. Agejew jedoch eindeutig die Welt die Schuldige zu sein; unsere Gesellschaft, die Menschen wie Wadim hervorbringt und sie gleichzeitig mit ihrer Geburt zum Tode verurteilt.

»Aber, wenn das – die Mutter – schon das Beste ist, womit die Menschheit sich brüstet«, bemerkt Wadim eines Morgens, als er beobachtet, wie eine Frau ihr Kind ohrfeigt, »wie sind dann erst die anderen?«
So bleibt »Roman mit Kokain« weitaus mehr als nur ein guter Roman, es ist auch eine Mahnung an uns, die wir alle ein bisschen von Wadim in uns tragen, ein abschreckendes Beispiel. Nach dem Lesen bleibt ein bitterer Geschmack im Mund zurück und ein kaltes Ziehen in der Magengegend – genau wie bei Kokain.

M. Agejew: »Roman mit Kokain«. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Norma Cassau. Mit Nachwort von Karl-Markus Gauß. Manesse Verlag: München 2012.

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