Zum Abschied waren sich ausnahmsweise alle einig. Als der Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Philosoph Friedrich Kittler im Oktober 2011 verstarb, erinnerten zahllose Nachrufe an einen großen, unkonventionellen Denker. Und niemand versäumte es, auf den anfangs steinigen Weg hinzuweisen, den Kittler nehmen musste. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, welche Provokation es für die geisteswissenschaftliche Zunft hier zu Lande darstellte, als Kittler mit allerhand französischen Poststrukturalismen bewaffnet die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« forderte. Das war neu, das war unerhört – zumal von einem, der noch nicht einmal einen Lehrstuhl inne hatte. Der Sammelband über die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« erschien 1980, Kittler war nur Assistent am Deutschen Institut an der Universität Freiburg. Erst vier Jahre später erfolgte die Habilitation – nach einem Habilitationsverfahren, das in der deutschen Universitätsgeschichte wohl einmalig ist. Anstelle der üblichen drei brauchte es dreizehn Gutachten bis Kittlers Studie »Aufschreibesysteme 1800/1900« endlich akzeptiert wurde. Auch diese Schrift eine Provokation, inhaltlich wie stilistisch: In der Deduktion der Schreibweisen einer Epoche aus den dominierenden Medientechnologien sahen manche Kritiker einen unheilvollen Mediendeterminismus am Werk. Andere monierten Kittlers apodiktischen Duktus und die mitunter raunende Sprache.
Nicht frei von einer gewissen Provokationslust sind auch die »Philosophien der Literatur«, posthum erschienen im traditionsreichen Merve Verlag. Wie Kittler hier dem Zusammenspiel vom Dichten und Denken nachforscht und beiläufig kleine und größere Seitenhiebe verteilt – etwa wenn er Sartre attestiert, er schreibe »schlechte Bücher in bleiernem Stil« und seine Literaturphilosophie sei bloßes »Blabla« – ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Und überdies angenehm zu lesen, weil nämlich weder das besagte Kittlersche Raunen noch überlange Satzmonster und abgehobene Neologismen dem Verstehen große Hürden aufbauen. Was nicht bedeutet, dass Kittler inhaltlich leichte Kost servieren würde, im Gegenteil: Wem beispielsweise der Deutsche Idealismus, Heideggers Überlegungen zum Kunstwerk oder die Poetik des Aristotles fremd sind, der wird sich mitunter schwer tun. Andererseits werden selbst komplizierte Zusammenhänge in einer anschaulichen und zugänglichen Sprache dargestellt, sodass auch Laien und Unkundige nicht auf der Strecke bleiben dürften. Diese ungewohnte sprachliche Luzidität hat ihren Grund wohl in den besonderen Entstehungsumständen des Textes: Die »Philosophien der Literatur« basieren auf einer Vorlesung, die Kittler zuletzt im Jahr 2002 an der Berliner Humboldt-Universität hielt. Anders als bei früheren Versionen dieser Vorlesung, die vor allem auf den deutschen Sprachraum und somit auf das 18. und 19. Jahrhundert fokussierten, spannt sich der geschichtliche Bogen dabei von den frühesten Anfängen bis in die Gegenwart.
Den Anfang macht also Hellas – jedoch hatten die antiken Griechen zwar Literatur, kannten aber den Begriff nicht, weshalb »mithin die Dichtung ihrer Philosophie vorausging«. Erst die Römer, »dieses wohl musenverlassenste Volk Europas«, sprachen von Literatur, meinten damit zunächst aber schlicht Lesen und Schreiben. Überhaupt seien, so Kittler, die dichtenden Römer, namentlich Horaz und Vergil, »trotz aller Nachmacherei den griechischen Dichtern unterlegen«. Was aber viel schwerer wiege, ist die übersetzungsbedingte Verschiebung der griechischen mimesis hin zur lateinischen imitatio, vom aktiven Nachvollzug göttlicher Freuden hin zur Nachahmung literarischer Vorbilder, sprich Epigonentum. Kittler resümiert: »Eine genuin sprachliche Möglichkeitsbedingung des Philosophierens war in Rom gar nicht gegeben.« Was blieb war Rhetorik.
Über einen kurzen Zwischenstopp im Mittelalter – Thomas von Aquins Lehre des vierfachen Schriftsinns wird knapp referiert – geht es vom antiken Rom darum flugs in die Neuzeit und damit in die Epoche, der Kittlers größte Aufmerksamkeit gilt. Kant, Hegel und die Romantiker bilden das Koordinatensystem, in welchem sich Kittlers Überlegungen zur Begründung der modernen Literaturphilosophien bewegen, die ein oder andere Abschweifung inbegriffen. Und Kittler wäre nicht der Medienwissenschaftler gewesen, der er war, würden dabei nicht auch die medientechnologischen und institutionellen Vorraussetzungen der Epoche reflektiert, etwa die prekäre Stellung von Poetik und Ästhetik an den deutschen Universitäten. Während »das Durchstreichen aller medialen Materialitäten« Hegel dazu verleitet hat, die Literatur als höchste Kunstform zu setzen, geht es Kittler gerade um die materiellen Bedingungen von Literatur und Literaturphilosophie, um die Materialität der Schrift wie um die ihrer Produktionsumstände. Und die Einlassungen zum universitäre Umfeld sind höchst aufschlussreich, allerdings auch bitter. Florierten in der Nachfolge Hegels zunächst spekulative Interpretation zeitgenössischer Dichtung, kam die nach-hegelsche Germanistik zunehmend »auf den Hund«, das heißt sie verlegte sich aufs Editieren, Kommentieren und die Aufzählung historischer Fakten. So wurde etwa »das endlose Gerede Schillers und seiner Freunde zum tautologischen Erklärungsmodell seiner Werke«. Kittler weiter: »Genau dieser Schwachsinn arrivierte um 1840 zur gängigen akademischen Praxis.«
Es musste ausgerechnet ein gescheiterter Altphilologe kommen, um der Philosophie der Literatur zu einem neuen Höhenflug zu verhelfen, nämlich Friedrich Nietzsche. Mit Nietzsche wurde die Philosophie zur Dichtung und zugleich begann eine – anfangs unfreiwillige – »Exkommunikation aus den Institutionen«, die in Heidegger ihren Abschluss fand. Und mit Heidegger, so skizziert Kittler, gelangte auch die Philosophie der Literatur an ihr Ende. Ausgehend von Hölderlins Verszeile »dichterisch wohnet der Mensch« erklärt Heidegger kurzerhand die Sprache zum »Haus des Seins«, wodurch in der Konsequenz aber alle Sprache Dichtung wird. Kittlers Fazit: »Einhundertfünfzig Jahre nach ihrer Kantischen Stiftung sprengt sich die Literaturphilosophie selbst in die Luft.« So ist es zwar schade, aber verzeihlich und dem Verlauf der Argumentation durchaus angemessen, dass die Nachkommen Heideggers im Anschluss nur ungenügend abgehandelt werden. Die zu knapp geratenen Bemerkungen zu Sartre, Barthes, Saussure, Jacobson, Levi-Strauss und Lacan schmälern den großen Gewinn der »Philsophien der Literatur« allenfalls marginal.
Friedrich Kittler: Philosophien der Literatur. Berlin: Merve 2013.