Wer kennt ihn nicht, den Albtraum, man sitzt bei „Wer wird Millionär“ auf dem heißen Stuhl und weiß die Antwort auf die Frage nicht, obwohl man sie doch eigentlich wissen sollte. Und dann fällt einem plötzlich auf, dass man vergessen hat, eine Hose anzuziehen. Zumindest mit der erstgenannten Komponente setzt sich Dierk Wolters in seinem Roman auseinander, der sich bemüht, in Sachen Titellänge Frank Witzel den Rang abzulaufen: »Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage« heißt er, ein Titel, der ebenso umfangreich wie programmatisch ist, denn um nichts anderes geht es. Oder?
Zumindest nimmt die Handlung bei der genannten Achtelmillionenfrage ihren Anfang, als Protagonist Rüdiger Meierle, von Freunden auch Rudi genannt, bei der aus Film und vor allem Fernsehen bekannten Quizshow sitzt und nicht weiß, welche Antwort die richtige ist. Dass das insofern doppelt peinlich ist, wird auch gleich postwendend anhand einer Kurzbiographie erläutert, denn »Rudi« zeichnet seine Erlebnisse quasi gleichzeitig zum Erzählen in Fom von Online-Memoiren für die Nachwelt auf. So erfährt der Leser, dass der bei Jauch peinlich Befragte von Beruf Geschichtslehrer an einem Gymnasium ist und somit die Frage nach der historischen Bedeutung des Tribunals im Schlaf beantworten können müsste.
Doch genau an dieser Stelle hakt es, warum bleibt bis zuletzt ein Geheimnis. Mit einem Mal vom Blackout getroffen, bleibt Rüdiger nichts anderes übrig, als erst den Telefonjoker und dann – als auch dieser keine Entscheidung bringen konnte – den Publikumsjoker einzusetzen. Eine junge Frau namens Julia meldet sich, und nennt eine Antwort, die der Protagonist auch als Endgültige eingibt – es ist die falsche.
Es ist ganz klar die Chronologie einer Katastrophe, die da beschrieben wird, doch der Niedergang setzt mit der falschen Antwort erst ein. Mit einer außergewöhnlichen Schärfe seziert Wolters die zwischenmenschlichen Konsequenzen, die aus dem Versagen in der Quizshow resultieren, von beiläufigen Sticheleien bis hin zum vollständigen Ausseinanderleben des Ehepaares Meierle. Auch die junge Frau wird zur Zielscheibe des Spotts und der Häme, wobei hier das Potenzial der so genannten shitstorms eher überschätzt wird.
Zwar stimmt es, dass die »Internet Hate Machine« einem sehr schnell auch das Privatleben vermiesen kann, und vor kurzem fand ein ähnliches Szenario statt, doch zeichnen sich shitstorms vor allem durch ihre Kurzlebigkeit aus, gerade wenn es sich dabei um die Rezeption einer wöchentlich ausgestrahlten Sendung handelt. Dass man also, wie die Hauptfiguren in Wolters‘ Roman, wegen eines solchen Fehlers komplett aus dem Leben fällt und sich von der Gesellschaft vollständig abnabeln muss, scheint unwahrscheinlich.
Doch kann man das Gedankenexperiment durchaus mitgehen, ist es ja doch genau diese Eigenschaft, die Fiktion ausmacht, und »Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage« wirkt bei der ersten Lektüre alles andere als konstruiert. Zu fein sind die Details und zu exakt die Beobachtungen, die der Autor anstellt. Umso bedauerlicher ist es, dass der Roman im letzten Viertel ein wenig im Klischee versinken muss, bevor es zu dem bereits zu Beginn anklingenden Ende von geradezu aristotelischem Dramenausmaß kommt.
Anstatt dabei zu bleiben, die Problematik der Protagonisten und ihre daraus resultierende Verbundenheit zueinander anhand der modernen Gesellschaft zu erklären und sich – vielleicht auch in größerem Umfang – die Frage zu stellen, was die Menschen heutzutage so verletzlich macht, beginnt der Roman im vierten und letzten Teil damit, die Figuren zu psychologisieren, um eine Affäre der beiden begründen zu können. Die daraus folgenden Versatzstücke sind – im Gegensatz zum Rest des Buches – leider alle schon mehr als einmal breitgetreten, und es ist ein Glück, dass das Ende zumindest noch teilweise offen bleibt. Doch natürlich könnte man auch vermuten, dass Dierk Wolters, seines Zeichens erfahrener Kulturredakteur der Frankfurter Neuen Presse, genau wusste, was er tat: Geht es nicht auch darum, die Klischee- und Schablonenhaftigkeit zu parodieren, die (schlechter) Literatur mitunter zu eigen ist? Und zwar, indem er einerseits ein Szenario entwirft, welches relativ neu ist, jedoch andererseits Figuren auftreten lässt, deren vorhersehbares Handeln dem Leser allerdings erst nach einiger Zeit klar wird?
In diesem Fall ließe sich »Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage« als ein wirklich außergewöhnliches zeitgenössisches Werk einstufen, das sich vor den metafiktionalen Größen des letzten Jahrhunderts nicht verstecken müsste. Falls nicht, bliebe ein interessanter Unterhaltungsroman mit ein wenig Gesellschaftskritik, der zum Lesen, aber nicht wirklich zum philosophieren einlädt.
Dierk Wolters: Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage. Weissbooks: Frankfurt am Main 2015.