In den letzten Jahren ist der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton einem größeren Publikum im deutschsprachigen Raum vor allem durch zwei Bücher bekannt geworden: »Der Sinn des Lebens« von 2008 und »Das Böse« von 2011. In beiden Büchern stellt Eagleton genuin philosophische Fragestellungen und Problemlagen mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Verständlichkeit dar und bringt sie so auch dem interessierten Laien näher. Sein jüngstes Werk mit dem Titel »Warum Marx recht hat« setzt diesen Weg fort, handelt es sich doch um eine ebenso fundierte wie streitbare Einführung in die Theorie von Karl Marx und den Marxismus. Ein schwieriges Unterfangen, zweifellos, denn über kaum jemand ist soviel gesagt und geschrieben worden wie über Marx – was natürlich den Grund darin hat, dass kaum jemand das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert so stark geprägt hat wie Marx. Vor allem aber sind über kaum einen Philosophen und dessen Theorie derart viele Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Verzerrungen im Umlauf.
Was, wenn all die sattsam bekannten Einwände gegen Marx’ Werk falsch sind? Oder, wenn nicht völlig abwegig, so doch in hohem Maße irreführend?
Eagleton macht sich das für den Aufbau seiner Einführung zu Nutze, indem er in zehn Kapitel zunächst die zehn häufigsten Einwände gegen Marx und den Marxismus anführt und sie anschließend mit Witz und Wissen demontiert. Er holt den Leser gewissermaßen bei seinen antimarxistischen Vorurteilen ab und zeigt ihm dann Schritt für Schritt, dass Marx eben doch kein Feind von Freiheit, Demokratie und Bürgerrechten war, sondern ihr unbedingter Verteidiger. Marx »Frevel« bestand vielmehr in der scharfsichtigen Beobachtung, dass sich die bürgerlichen Ideale unter den Bedingungen einer kapitalistischen Produktionsweise nicht verwirklichen lassen, allen Beteuerungen liberaler Schwätzer zum Trotz. Um sie aber dennoch zu verwirklichen, braucht es mehr als bloß Philosophie und Theorie, nämlich Praxis und Revolution, was nirgendwo einfacher und klarer gesagt wird als in Marx’ berühmter und oft zitierter elften Feuerbach-These:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.
Ist das heute anders? Das ganze Buch hindurch, und nicht nur im ersten Kapitel, welches explizit die Aktualität von Marx’ Denken behandelt, führen Eagletons Ausführungen dem Leser en passent die Notwendigkeit marxistischer Kritik wie Aktion vor Augen. Die Perspektive ist nicht die fiktive eines Zeitgenossen aus dem 19. Jahrhundert, obwohl auch der historische Zusammenhang immer wieder Erwähnung findet. Eagleton geht es in der Hauptsache darum, die ungebrochene Bedeutung von Marx für die Gegenwart aufzuzeigen. Deshalb die Form der engagierten Einführung beziehungsweise des einführenden Plädoyers – nicht dass Marx recht hatte, sondern dass er recht hat, ist entscheidend.
Der gut betuchte Engels war also die materielle Basis für Marx’ geistigen Überbau.
Eine große Stärke des Buchs besteht in Eagletons Vermögen, auch komplizierte Sachverhalte und abstrakte Theorien klar und verständlich darzustellen, ohne sie allzu sehr zu vereinfachen oder gar zu verfälschen. Seine Paradedisziplin ist das konkrete Beispiel, und je alltäglicher und vertrauter es ist, desto besser. Im Gegenzug verzichtet er weitgehend auf philosophisches Fachvokabular und macht auch um den marxistischen Jargon einen Bogen. Jedoch ist gerade diese Einfachheit und Klarheit durchaus hilfreich, wenn es darum geht, oft gehörte aber weniger oft verstandene Begriffe wie »Klasse« oder »Produktivkräfte« anschaulich zu machen. Mitunter ist Eagleton ein großer Popularisierer, aber das im besten Sinne des Wortes: Er macht wichtige Gedanken einem großen Publikum zugänglich und betreibt, was man in früheren Tagen gern Aufklärung nannte. Hat man »Warum Marx recht hat« gelesen, bekommt man eine Ahnung, warum das Prädikat »populärphilosophisch« in der englischsprachigen Welt, anders als in Deutschland, kein Schimpfwort ist. Dort hat man Terry Eagleton, hier Richard David Precht.
Terry Eagleton: Warum Marx recht hat. Ullstein: Berlin 2012.