Foto: Thienemann Verlag

Jonas und Philip, genannt Nase und Lippe, staunen nicht schlecht, als sie bei einem Streifzug durch die örtliche Kanalisation einen Tiger, garniert mit Essenresten, Klopapier und Ähnlichem, aus dem Abwasser fischen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen gewöhnlichen Tiger, sondern um einen der sprechen kann und von sich behauptet, eine alte Dame aus der Nachbarschaft zu sein:

»Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«

Genauso selbstverständlich wie die Raubkatze dies behauptet, beschließen die beiden elfjährigen Protagonisten in Kilian Leypolds Roman »Der Tiger unter der Stadt«, sich um den Tiger, pardon, um Frau Ohm, zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ausgewachsenen sibirischen Tiger handelt, der der größte seiner Art ist. Ihre anfänglichen Berührungsängste vor dem mächtigen Tier erweisen sich allerdings schnell als unbegründet:

»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger.

»Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.

»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in die Sonne.

Während Tante Tiger – so nennen Philip und Jonas die alte Dame im Tigerkörper – anfangs noch nach altersgerechtem Essen und ihren zahlreichen Medikamenten verlangt, merkt sie nach und nach, dass ihr neuer Körper andere Dinge braucht – etwa rohes Fleisch statt Torte. Und sie spürt, dass sie Manches, zum Beispiel ihre Medikamente, gar nicht mehr benötigt.

 » […] die Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als Letztes der Kopfschmerz.«

Der Wegfall der physischen Beschwerden ist nur ein Vorzug ihres neuen Körpers. Im Gespräch mit Jonas und Philip wird ihr klar, dass er auch ein neues Lebensgefühl mit sich bringt. Ein Lebensgefühl, das nicht mehr von Angst, Einsamkeit und Traurigkeit dominiert ist:

 »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut es tut, keine Angst mehr zu haben.«

»Wovor hatten Sie denn Angst?«, fragte Lippe.

»Vor Treppen. Dass ich sie nicht mehr hinaufkomme oder hinunterpurzle. Überhaupt zu stürzen, in meiner Wohnung hilflos am Boden zu liegen und nicht mehr ans Telefon zu kommen. Angst, keine Dose und kein Einmachglas mehr aufzubekommen, und dann, wenn man zu nichts mehr Kraft hat … vor dem Ende.«

Kilian Leypold ist es mit seinem ungewöhnlichen Roman gelungen, auf amüsante, einfühlsame  und intelligent Art und Weise von dem Miteinander von Jung und Alt und dem Altwerden und Altsein überhaupt zu erzählen. Und das tut er kein bisschen schulmeisterlich, sein Roman erinnert vielmehr an ein modernes Großstadtmärchen.

Die entscheidende, omnipräsente Frage, die es vermag, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist: Wie konnte Kunigunde Ohm in den Körper des Tigers gelangen? Doch das verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht. Wir empfehlen: Roman kaufen und nachlesen. Es lohnt sich.

Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau Verlag: Berlin 2010.

Portrait Dirk Reinhardt
Foto: Stefan Haas / Julienne Haas

Ungefähr vier Jahre, die Zeit vom 12. März 1941 bis zum 21. Mai 1945, beschreibt der Protagonist Josef Gerlach, geboren 1927, in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Wie viele andere Jugendliche im Rhein-Ruhr-Gebiet gehört er zu den »Edelweißpiraten«. Dirk Reinhardts gleichnamiger Roman ist durch den Tagebuchstil unmittelbar und authentisch. Der Leser kommt Josef, den alle nur „Gerle“ nennen, sehr nah und erlebt vier Jahre Geschichte in zweifacher Art und Weise: in Form von Gerles eigener, persönlicher Geschichte, die ihrerseits wiederum Teil der allgemeinen deutschen Geschichte ist. Durch die Einbettung dieser Tagebuchaufzeichnungen – für die der Autor übrigens auch zeitgenössische Tagebucheinträge herangezogen hat – in eine Rahmenhandlung, schlägt Reinhardt gekonnt eine Brücke zur heutigen Zeit und bringt nebenbei auch noch ein Geheimnis ins Spiel, das den Roman bis zum Ende spannend macht.

Weil die Jugend von Gerle und seinen Freunden in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs fällt, ist sie alles andere als unbeschwert. Gerle, der in dem Kölner Arbeiterviertel Ehrenfeld lebt, ist zu Beginn der Aufzeichnungen 14 Jahre alt. Er ist am Ende seiner Schulzeit – und seiner Zeit in der Hitlerjugend angelangt. Keine drei Wochen nach dem ersten Eintrag treten er und sein bester Freund Tom aus der nationalsozialistischen Jugendorganisation aus. Dass dieser Austritt nicht ohne Folgen bleibt, merken sie schnell, etwa bei der Suche nach einer Lehrstelle, die länger dauert und beschwerlicher ist als bei ihren Altersgenossen, die Mitglied der HJ sind. Kurze Zeit später schließen sie sich einer Gruppe von oppositionellen Jugendlichen an, den Edelweißpiraten.

Irgendwie gefallen mir diese Typen am Neptunbad. Sie senken ihre Stimme nicht, wenn sie reden. Sie sehen einem in die Augen und nicht zu Boden. Sie albern rum und haben Spaß dabei. Sie tragen bunte Klamotten, nicht das ewige Braun wie in der HJ, nicht wie die vielen grauen Mäuse, die über die Straße laufen. Sie wirken irgendwie ungezwungen und – frei. Ja, ich glaub, das ist das richtige Wort. Sie wirken frei.

Und weil die Institutionen des NS-Regimes ihnen diese Freiheit nehmen wollen, legen sie sich mit ihnen an. Ihre Aktionen werden nach und nach politischer, einer der Höhepunkte ist eine einzigartige Flugblattaktion am Kölner Hauptbahnhof, die sich in diesem Monat zum siebzigsten Mal jährt. Damals führt sie dazu, dass die Edelweißpiraten endgültig ins Visier der Gestapo geraten, man sie verfolgt, verhaftet und foltert. Daneben erleben Gerle und die anderen Jugendlichen aber auch das, was zu einer ganz „normalen“ Jugend dazugehört – Freundschaften, die erste große Liebe, Musik – und das macht den Roman so reizvoll.

Cover EdelweißpiratenBis man die Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer anerkannt hat, hat es lange gedauert. Im Nachwort erklärt Reinhardt, der auch Historiker ist, dass sie noch bis in die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Kleinkriminelle oder Unruhestifter galten. Er vermutet den Grund für diese Einschätzung vor allem darin, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft diesen Widerstand von „unten“ nicht sehen wollte, nicht wahrhaben wollte, dass auch „der kleine Mann von der Straße“ Widerstand leisten konnte, wenn er wollte, um so vielleicht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ zu entgehen.

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten. Aufbau Verlag: Berlin 2012. Ab 12 Jahren.

Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk.