Schaut man dieser Tage die Nachrichten, dann erreichen einen stündlich neue Meldungen über die Lage in Syrien. Inzwischen nicht mehr auf harmlose Demonstrationen beschränkt, hat sich die Revolution nun zu einem schrecklichen Bürgerkrieg entwickelt, der auf beiden Seiten blutige Opfer fordert. Doch auch wenn sich die westlichen Medien inzwischen große Mühe geben, eine möglichst genaue und objektive Berichterstattung abzugeben, weiß man immer noch sehr wenig über die Entstehungen dieses Konflikts, oder über die Motivationen der einzelnen Kräfte innerhalb der syrischen Revolution. Der französische Schriftsteller Jonathan Littell reiste im Januar 2012  nach Homs und führte über seine fast einen Monat andauernde Reise ein ausführliches Kriegstagebuch.

Beginnend in Tripoli führt die Reise durch den Libanon und über die syrische Grenze. Littell betritt das Land nicht als offizieller Journalist, er wird von einem syrischen Schleuser über die Grenze geschmuggelt: Er ist als Illegaler im Land. Dadurch ist er fähig, über die ungeschminkte Wahrheit zu berichten und nicht den Lügen des Regimes auf den Leim zu gehen, wie einige Vertreter des deutschen Prominenz-Journalismus. (Man denke an Jürgen Todenhöfers Artikel »Die Kirschen aus Daraa«, der im Juni 2011 in der »ZEIT« erschien und die Existenz einer Revolution leugnete.) Der Bericht von Jonathan Littell ist immer in der ersten Reihe mit dabei und erzählt auch von dem, was wir eigentlich nicht hören möchten. Von gefolterten Kindern und Erwachsenen, die mitten in ihrem Alltag unschuldig von Scharfschützen ermordet werden. Von den blutigen Opfern, aber auch von den Helden der Revolution. Von Menschen wie du und ich, von einfachen Handwerkern, Künstlern und Akademikern, die beschlossen haben, die Misshandlungen des Regimes nicht länger zu ertragen und aus dieser Motivation heraus in den Untergrund gegangen sind. Der Leser wird dabei mitten ins Geschehen gesogen, er folgt den Schritten des Reporters, schaut ihm über die Schulter, teilt seine Gedanken und Gefühle.

Von der syrischen Grenze geht die Reise weiter über Quasir nach Baba Amr, eine der zu dieser Zeit größten Rebellen-Hochburgen. Im Januar begann dort die Offensive der Armee, die im Februar ihren Höhepunkt erreichen sollte, weswegen die Rebellen Baba Amr im März räumen mussten. Hier ist der Krieg Teil des Alltags geworden, jeder geht seinen normalen Beschäftigungen nach, kauft ein, isst zu Mittag, verteilt Munition, kämpft. Manche Viertel sind rund um die Uhr unter Beschuss, in anderen wirkt der Aufstand wie ein weit entfernter Traum.
Die »FSA« (»Freie Syrische Armee«, die Streitkräfte der Rebellen) hat Straßensperren errichtet wie auch die Armee und versucht, die Bürger bei Versammlungen und Demonstrationen zu schützen. Die Armee hingegen verschanzt sich in den großen Gebäuden wie Moscheen und Hochhäusern und kontrolliert die Hauptstraßen durch Scharfschützen. Diese kennen kein Pardon, Littells Tagebuch ist durchzogen mit Menschen, die verletzt oder getötet werden, nur weil sie eine Straße überquerten. Dass diese Brutalität bereits stattfand, bevor die Opposition zurückschlug, dürfte einem neu sein, wenn man bis jetzt nur die westliche Seite der Berichterstattung kannte.

Der Weg von Jonathan Littell führt ihn schließlich bis in einen der Schmelztiegel der Revolution, die umkämpfte Stadt Homs. Dort erlebt er die ganze Härte, mit der das Regime gegen sein eigenes Volk vorgeht, bekommt selbst den Hass zu spüren, der von den Geheimdiensten und der Armee verbreitet wird, und lernt diejenigen kennen, welche die syrische Freiheit mit ihrem Blut bezahlen.
»Siehst du das?«, fragt ihn irgendwann ein verzweifelter »FSA«-Soldat in einem dieser grausamen Youtube-Videos, die zeigen, was die Armee mit Zivilisten macht. »Wie sollen wir aufhören, wenn sie so was machen?«
Als die Lage sich mehr und mehr zuspitzt, tritt Littell den Rückzug gen Libanon an. Andernfalls wäre er vielleicht unfreiwillig in die Fußstapfen des französischen Reporters Gilles Jacquier getreten, der im Januar 2012 in Homs getötet wurde.

Übrig bleiben von dieser Reise zwei Notizbücher voller Eindrücke und Namen. Beim Lesen entsteht ein bitterer Beigeschmack, weiß man doch, dass die Kämpfe bis heute weiter andauern und viele weitere Unschuldige ihr Leben lassen mussten. Doch falls dieser Kampf einmal sein Ende finden wird und das syrische Volk seine Freiheit bekommt, dann ist »Notizen aus Homs« ein guter Beginn für eine journalistische Chronik des Widerstands.


Jonathan Littell: »Notizen aus Homs«. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt. Hanser Verlag: Berlin 2012.

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