Elvis Costello war nie sehr bekannt in Deutschland. Er hatte mit seiner ersten Begleitband, den Attractions, zwar mal einen Auftritt bei der Kultsendung Rockpalast absolviert (ein hitziger, übereilter, von zügelloser Aggression gezeichneter Gig, den man heute noch online findet), und er kommt sogar auf das eine oder andere Livekonzert rüber, dafür allein, ohne seine diversen Bands, wie die Impostors oder die Sugarcanes oder die neu erworbenen Roots. Ich hab ihn letztes Jahr in meiner Stadt erleben dürfen, von der er scherzhaft behauptete, sie wäre die »sex capital of the world«. Er spielte alte Hits, aber auch unbekanntere Nummern, wunderte sich, dass die Wenigen, die da waren (die Halle war halbleer oder halbvoll, je nachdem…), total begeistert waren, fühlte sich immer wohler, spielte weiter, holte seine Vorband Larkin Poe für ein fulminantes gemeinsames Set auf die Bühne, spielte wieder allein, holte die Band noch einmal zurück, wunderte sich wieder, warum die Leute immer noch da waren, und schloss den Auftritt mit ein paar großartigen Songs ab. Zweieinhalb Stunden ging das Ganze. Was für ein Abend. Man kennt ihn also doch.
Aber so gut nun auch wieder nicht. Ich vermute, Costello ist hier vor allem durch seine Gastauftritte in Serien wie den Simpsons, Two and a Half Men oder 30 Rock bekannt als der lustige ältere Herr mit der schwarzen Hornbrille und den ausgefallenen Hüten. Dabei ist er einer der interessantesten Popmusiker, die aus der New Wave-Bewegung aufgetaucht waren. Er schrieb Rock’n’Roll-Songs, Country, Jazz. Er schrieb Songs mit Paul McCartney, Burt Bacharach, Allen Toussaint. Er nahm Musik mit dem Brodsky-Quartett auf, Anne-Sofie von Otter, Chet Baker oder mit den Roots. Er stand mit Bob Dylan auf der Bühne, für den er manchmal als Vorband auftrat. Sein größter Hit war übrigens »She«, eine Coverversion eines Aznavour-Chansons. Seine Bandbreite ist für Pop-Verhältnisse unbegreiflich, aber auch so ziemlich beeindruckend.
Jetzt hat er eine fast 800-seitige Autobiographie vorgelegt. Zum Glück verzichtet diese auf die üblichen Zutaten einer Popstar-Konfession. Drogen- und Bettgeschichten? Fehlanzeige. Dafür viel Selbstbespiegelung und Schuld-Diskurs. Costello ist nicht auf alles stolz, was er in seinen 61 Jahren erreicht hat. Mit Reue und Melancholie blickt er auf seine Fehler zurück und auf die Menschen, die er verletzt hat: »Das Leben dauert länger als ein durchschnittlicher Popsong. Es ist voller falscher Entscheidungen und unangenehmer Verpflichtungen. Es ist viel schmerzvoller und weniger leicht zu vergessen.«
Viel Platz räumt er auch seiner Familie ein, seinem Vater Ross McManus zum Beispiel, der zeit seines Lebens ein halbwegs bekannter Big Band-Sänger war. Überhaupt merkt man dem Buch die Ehrfurcht an, die der Verfasser vor all jenen Menschen hat, die ihn sein Leben lang begleitet haben, die ihn inspirierten und die ihn liebten. Wer bei Costello an den »angry young man« des Pop denkt, an den Zyniker oder gar den Frauenfeind, wird merken, dass dieses Image nie eine solide Grundlage hatte, sondern in ein Bild passte, dass zu der Zeit gerade en vogue war. In folgender Passage beschreibt Costello eine alkoholgetränkte Begegnung mit einem eigensinnigen Journalisten, aus der sich ein Automatismus entwickelte, der später als Image fehlinterpretiert wurde:
Durch Zufall oder geheimes Einverständnis ergab sich aus dem Gespräch eine Figur, die ich in den nächsten paar Jahren mit Leben ausfüllen sollte. Ein Durcheinander zitierbarer Übertreibungen meiner wahren Gefühle taumelte daraus hervor, wobei meine Beweggründe und die Anliegen all meiner Songs auf »Rache« und »Schuld« reduziert wurden.
Es stimmt, dass Letzteres einem katholischen Schuljungen auf der Stirn geschrieben steht, aber Angeberei und Alkohol verstärkten alles, was mich auf die Palme brachte. Ich war wild entschlossen, es allen zu zeigen, und stand gleichzeitig kurz davor, alles hinzuschmeißen. […] Jedenfalls waren wir bereits mit all den anderen kaputten Spielzeugen in einer Schublade mit der Aufschrift »New Wave« gesteckt worden. Das war jeder, der schnelle, gehässige Songs spielte und eine schmale Krawatte trug, statt mit authentischer Stimme in skandalösen Punkklamotten zu singen.
Neben diversen Beobachtungen zum Popstardasein, dem Leben danach, dem unglamourösen Leben auf Tour und den kleinen und großen Porträts von Verwandten, Freunden und Wegbegleitern, besteht »Unfaithful Music« vor allem aus Ausschnitten aus seinen Songtexten und sogar einigen Kurzgeschichten, aus denen später Songs wurden oder diese inspirierten. Wir erfahren, wie schnell ein Lied entstehen kann, was für ein Gefühl, was für ein Ereignis, was für eine Ahnung nötig ist, damit daraus eine dreieinhalbminütige Erzählung wird. Insofern geht es in diesem Buch auch um das Schreiben, über die Kraft von drei, zwei, manchmal nur einer Zeile, hinter der sich eine ganze Welt abspielt.
Während Schriftsteller sich oft zurücklehnen und ihre Fantasien großzügig auf den zu füllenden Seiten ausbreiten können, kann sich der Musiker, der sein eigener Lyriker ist, solchen Luxus nicht leisten. Kein Wort darf verschwendet werden. Jeder Satz muss etwas auf den Punkt bringen. Jede Szene muss ein kleiner Roman sein. Wie etwa in dieser Kurzgeschichte, aus der später der Song »Poor Napoleon« wurde:
Die Affäre war kürzer als ihre Freundschaft und ruinierte diese vollständig. Sie trafen sich an nasskalten Nachmittagen, wenn draußen der Regen peitschte. Stets hatte sie den Verdacht, dass er etwas vor ihr verbarg. Ihre Vergeltungen waren ebenso engherzig wie verletzend.
Sie trug die Seidenstrümpfe nicht mehr, die ihm so sehr gefielen, und klagte, diese seien zu teuer, um sie in der gebotenen Hast zu ruinieren. Er glaubte, sie sparte sie für einen anderen Liebhaber auf, den sie ihm vorzog.
Wer Musik und Text im Pop gleichermaßen ernst nimmt (und das ist gar nicht so einfach), kann sich auf die Geschichte dieses musikalischen Autodidakten einlassen, der sein Leben genauso wenig linear lebte wie er diese Autobiographie verfasst hat; der genauso gut ein Schriftsteller hätte werden können, und es in gewissen Sinne auch geworden ist; der mit seinen Erfolgen prahlen könnte, doch stattdessen ein Staunen an den Tag legt, über all die guten Dinge, die ihm widerfahren sind, und dabei trotzdem noch verdammt lustig ist. Dieses Buch ist viel auf einmal, vielleicht zu viel, aber so ist es letztlich auch mit der Musik von Elvis Costello. Ich freue mich schon auf seinen nächsten Besuch in der Sexhauptstadt der Welt.
Elvis Costello: Unfaithful Music. Mein Leben. Übersetzt von Henning Dedekind, Henriette Heise und Hubert Mania. Berlin Verlag: Berlin 2015.