Dietmar Dath, Schriftsteller und Journalist, und Barbara Kirchner, Professorin für theoretische Chemie, haben ein Buch geschrieben mit dem sperrigen Titel »Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee«. Doch ist der Titel allein, verglichen mit dem, was die Lektüre dieses buchgewordenen Ungetüms dem geneigten Leser abverlangt, noch vergleichsweise harmlos, denn auf gut 800 Seiten gehen Dath und Kirchner der Frage nach, »ob und wie so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht werden kann«. Dazu durchforsten sie die Tiefen und Untiefen von Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Literatur und picken sich heraus, was ihnen gelegen kommt und was gerade passt. Das Resultat ist ein Buch, das in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit kaum zu fassen ist, so vollgepackt mit Informationen, Reflexionen und Ideen ist es. Eine Annäherung – in sechs Schritten:
1. Den Begriff »Implex« haben Dath und Kirchner bei Paul Valéry »gefunden« und für ihre Zwecke umfunktioniert. Sie verstehen darunter die »produktiven Potenzen« einer bestimmten historischen Situation, und zwar im dreifachen Sinne: formallogisch, genealogisch und poetisch-metaphorisch. Es geht also, anders und vereinfacht gesagt, um Möglichkeiten und Spielräume, die Welt besser einzurichten als sie derzeit ist – gerechter und freier, vor allem aber vernünftiger. In ihrem Insistieren auf die vielgescholtene »Vernunft« erweisen sich Dath und Kirchner als unbedingte Aufklärer, freilich ganz in marxistischer Tradition. So nehmen sie etwa von Rosa Luxemburg ihre Definition von Fortschritt und reanimieren kurzerhand den außer Mode gekommenen Klassenbegriff.
2. Den Implex suchen Dath und Kirchner nahezu überall: In den Wissenschaften und der Philosophie, in der Kunst und der Literatur. Sie kennen keine Berührungsängste und meist sind es die eher abseitigen Themenfelder, die sich mit dem größten Gewinn lesen lassen, eben weil hier genuin Neues zu Tage gefördert wird – etwa, wenn in einem Kapitel die emanzipatorischen Ansprüche und Impulse von Horror, Fantasy und Science Fiction herausgearbeitet werden. Doch auch da, wo vermeintlich alles gesagt scheint, gelingt es Dath und Kirchner einen unkonventionellen, weil eben marxistisch inspirierten Blick auf bekannte Sachverhalte zu eröffnen.
3. Die Frage, wer den »Implex« lesen soll und lesen wird, ist berechtigt. Vermutlich liegen Dath und Kirchner nicht falsch, wenn sie im Vorwort bemerken: »Am meisten werden dem Buch zweifellos diejenigen entnehmen können, die unsere Zielsetzungen bereits teilen und sich bloß von den Wegen dahin anregen lassen, die wir vorschlagen – sei es, weil man sie übernehmen kann, sei es, weil man bei ihrer Zurückweisung gezwungen ist, eigene Ideen zu entwickeln, zu überprüfen, zu schärfen.«
4. Wie jede Geschichte, so hat auch dieser »Roman in Begriffen« seine Helden und Antihelden. Die good guys sind die Aufklärer, vornehmlich diejenigen aus Frankreich und England (und nicht etwa Kant, dessen Aufklärungsschrift zu recht harsch kritisiert wird), sowie deren Anhänger. Über allem thronen aber die Traumpaare des Marxismus, Marx und Engels auf der einen Seite, Lenin und Luxemburg auf der anderen, von denen sich Dath und Kirchner die meisten Anregungen holen und auf die sie sich am meisten beziehen.
5. Auf der Seite der bad guys stehen neben den üblichen Verdächtigen wie Schmitt oder Heidegger auch Michel Foucault sowie die »Empire«-Verfasser Michael Hardt und Antonio Negri. Da das zu erwarten war, ist hier in erster Linie die Rangfolge von Interesse – und siehe da, erstaunlicherweise sind die heimlichen Oberschurken Richard Rorty und Friedrich August von Hayek, also zwei Liberale.
6. A propos »Roman in Begriffen« – die Frage nach Gattung, Genre oder Textsorte ist naheliegend, führt aber nicht weiter. Dath und Kircher schreiben, es handle sich weder um eine wissenschaftliche Monografie oder eine philosophische Abhandlung noch um ein politisches Manifest. Das ist nur insofern richtig, als der »Implex« alles zugleich ist – wissenschaftlich und philosophisch fundiert einerseits, politisch engagiert andererseits.
Dietmar Dath/ Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Suhrkamp: Berlin 2012.