Das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zum Erdöl ist eines der meist diskutierten Themen unserer Zeit. Angefangen bei den Kriegen, die unter dem Deckmantel der „Demokratisierung“ Öl fördernder Regime geführt wurden, über die Havarien, die zum größten Teil auf die Rechnung von Multikonzernen wie EXXON gehen, bis hin zu der höchst umstrittenen Methode des „fracking“, bei dem mit Hilfe von Chemikalien Erdöl und -gas an die Oberfläche gespült werden soll. Weniger prominent ist die Geschichte der US-Ölförderung im eigenen Land: Anfang des 20. Jahrhunderts fand in weiten Teilen Kaliforniens ein regelrechter Ölboom statt, was einerseits einen kleinen Teil der Bevölkerung, die damaligen Ölbarone, zu Millionären machte, den Rest der Beteiligten aber ins Elend stürzte. Inzwischen sind zwar knapp hundert Jahre vergangen, doch mit der Neuauflage von Upton Sinclairs Roman „ÖL!“ aus dem Jahre 1927 hat man die Möglichkeit, sich erneut in diese stürmischen Zeiten zu versetzen, nicht zuletzt, um hin und wieder einen kritischen Seitenblick auf unsere Welt zu werfen.

Im Zentrum steht die Figur des Ölmagnaten J. Arnold Ross, der den Leser mit seiner simplen, aber sympathisch gewitzten Art bereits nach den ersten Seiten in seinen Bann zieht. Man kann nicht anders als dem grummeligen ehemaligen Viehtreiber ein Schmunzeln zu schenken, wenn man liest, wie er Kleinstadtpolitiker und Bürokraten besticht, obgleich man sich der Verwerflichkeit seiner Tat bewusst bleibt. Zu Beginn zählt Ross noch zu den Kleinunternehmern, er besitzt einige wenige Ölquellen, verwaltet diese aber gut und macht den „Großen Fünf“ (Ölkonzernen der damaligen Zeit) immer mehr von ihrem Gebiet strittig. Wenn man nun aber glaubt, der Roman würde die Geschichte eines Mannes erzählen, der sich im großen Spiel des Kapitalismus bis an die Spitze kämpft, dann unterschätzt man „ÖL!“ bereits von Anfang an. Ebenfalls eine tragende Figur – wenn nicht sogar die eigentliche Hauptrolle – stellt J. Arnolds Sohn Bunny dar. Anfangs ist der noch konform und einverstanden, die erste Szenerie beschreibt Vater und Sohn, wie sie in einem Auto zu einer potentiellen Bohrstelle fahren, wobei betont wird, wie fasziniert der Junge vom Aussehen und Verhalten seines Vaters ist; ja, er ahmt sogar seinen Kleidungsstil nach.

Als jedoch die Jahre vergehen und die Geschäfte des Ölmagnaten mit zunehmender Größe auch immer ausbeutender und zwielichtiger werden, beginnt Bunny nachzudenken. Dem Leser geht es nicht anders, als Meisterleistung Sinclairs gilt hier die wechselnde Atmosphäre zu beachten, derer man sich zuerst nicht bewusst wird. Auch zu Beginn besticht J. Arnold Ross Bürgermeister und Advokaten, doch hat man hier vielmehr den Eindruck, dass der sympathische Ex-Maultiertreiber hier seinen Konkurrenten ein Schnippchen schlägt, dass die Bestechung an sich nur eine kleine, den Weg der Bürokratie erleichternde Abkürzung ist. Wenn später jedoch Senatoren und sogar der Präsident „gekauft“ werden, bekommt die Sache einen bitteren Beigeschmack, nun sind die Parallelen zu der heutigen Zeit offensichtlich, in der der Lobbyismus die Politik fest in der Hand hat. Nun ereignet sich in den USA der 20er Jahre: Der Kommunismus beginnt sich auszubreiten, wobei diese Formulierung an sich eine falsche Darstellung der Geschichte ist: Wohl kaum ein Land kann auf eine derart schwieriges Verhältnis zur eigenen Arbeiterklasse zurückblicken, wie Amerika. Als nach dem ersten Weltkrieg, der für das Land eine wirtschaftliche Zerreißprobe darstellte, die ersten Einflüsse aus Russland in die USA einsickerten, waren die Folgen verheerend: Streikende Arbeiter wurden von der Polizei niedergeschossen, zusammengeschlagen oder gleich gelyncht. Gruppen wütender Patrioten zogen durch die Städte und schlugen alles kurz und klein, was für sie auch nur ansatzweise verdächtig nach Sozialismus roch. Die „Roten“ wiederum zerstritten sich in endlos viele kleinere Splittergruppen, die Radikalen, deren Einstellung an den Anarchismus angrenzte, forderten die Zerstörung des Staates, während die Liberaleren Möglichkeiten für offene Verhandlungen mit der Gegenseite suchte.

In diese Welt aus Ideologie und Desillusionierung rutscht Bunny nun in seiner College-Zeit hinein und beginnt sogleich begierig, die Schriften von Marx und Engels zu verschlingen, sich zu engagieren. Man muss es Sinclair, der selbst Sozialist war (und zur Zeit von „ÖL!“ noch ein sehr radikaler) hoch anrechnen, dass er hier nicht den Fehler macht, mit dem politischen Zaunpfahl zu winken. Der Roman ist an keiner Stelle so billig, dass er sich auf schwarz-weiße Zeichnungen von Gut und Böse einlassen würde. So werden die Probleme, die sich der junge Kommunismus teilweise selbst in den Weg stellt, teilweise in den Weg gestellt bekommt, ausführlich dargestellt, angefangen bei der bereits oben erwähnten Zersplitterung, bis hin zum Unvermögen sich einzugestehen, dass nicht alle Kapitalisten gleichwohl böse sind. Das beste Beispiel hierfür ist Bunnys Vater, der nicht so genau weiß, was er von der neuen Einstellung seines Sohnes halten soll, nach welcher er ja ein ausbeutender Sklaventreiber sein müsste. Doch aus Liebe zu seinem Sohn akzeptiert er es, ja, er lässt Bunny sogar Geld – sein eigenes Geld aus den Ölgeschäften – für kommunistische Zwecke und somit gegen sich selbst verwenden. Bunny seinerseits steckt ebenfalls im Dilemma der Entscheidung: Auf der einen Seite steht die vornehme Gesellschaft, auf der anderen ein Leben als Radikaler im Untergrund. Bunny wählt den Mittelweg, in der Hoffnung, so den geringsten Schaden auf beiden Seiten anzurichten und dennoch wird, als sich die weltpolitischen Ereignisse überstürzen, nur wenig bleiben, von allem. Nur das Öl wird weiter fließen.

Wenn Ilja Trojanow auf dem Einband von einem „wuchtigen Panorama von Gier und Widerstand“ spricht, „das die Welt in ihren großen Zusammenhängen abbildet“, dann drängt sich dem Leser nach vollendeter Lektüre die Vermutung auf, dass dieser Satz das Werk besser zusammenfasst als jede Synopsis. Da „ÖL!“ bei Manesse erschienen ist, bietet es mit seinem 40seitigen Anhang viel Raum für Nachforschungen und Querverweise, insgesamt ist dem Verlag wieder eine sehr gelungene Edition geglückt. Sicher sind solche Werke am besten im englischen Original zu lesen – man kann sich J. Arnold Ross mit seinem breiten Südstaatler-Dialekt und seinen derben Maultiertreiber-Flüchen bereits lebhaft vorstellen – doch hat die Übersetzerin Andrea Ott mit der deutschen Übersetzung eine nicht minder lebhafte Version geschaffen. Eine Warnung bleibt dem Rezensenten jedoch noch auszusprechen: mit 717 Seiten, der für Manesse üblichen großzügigen Papierstärke und einem Hardcover-Einband, eignet sich das Buch weniger als Reiselektüre – wobei man sich damit problemlos einen Sitzplatz in der U-Bahn erkämpfen kann, wenn man es wild um sich schwingt. Als Upton Sinclair 1914 eine stille Mahnwache vor dem Gebäude der Standard Oil Company abhielt, hätte sich vermutlich nicht einmal der verträumte Utopist, der er damals war, träumen lassen, dass man ein Jahrhundert nach ihm sein Werk immer noch lesen, immer noch rezipieren und darüber nachdenken würde. Da es nun, genau wie damals, bei der jungen Generation liegt, etwas an der Welt zu ändern, ist „ÖL!“ eine gute Lektüre, die man ihr auf den Weg geben kann.

Upton Sinclair: ÖL! Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse Verlag: München 2013.

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