»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)
»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)

Donnerstag, 4. August 2011, im Londoner Stadtteil Tottenham. Auf dem Weg nach Hause wurde Mark Duggan von der britischen Polizei erschossen. Umgehend ließ ein Polizeisprecher verlauten, dass der 28-Jährige zuerst das Feuer eröffnet habe. Eine Lüge, wie sich im Nachhinein herausstellte. Duggans Tod war die Initialzündung für die schwersten Unruhen, die das Vereinigte Königreich seit Jahren erlebt hat. Brennende Autos, geplünderte Geschäfte, Polizei auf den Straßen. Für wenige Tage herrschte in der britischen Hauptstadt der Ausnahmezustand, die Staatsgewalt war an ihre Grenzen gestoßen. Doch die Reaktion folgte umgehend: willkürliche Verhaftungen, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen, eine massive Zunahme polizeilicher Repression und schließlich Verurteilungen, die nach allen Standards der Rechtsstaatlichkeit eine Farce waren.

Für die bürgerlichen Medien und die politische Führung war die Sache erwartungsgemäß schnell klar: Einhellig wurde ein hartes Durchgreifen gefordert, Politiker und Kommentatoren sprachen den Unruhen jegliche politische Dimension ab. Es handle sich, so der Tenor, schlicht und ergreifend um Akte sinnloser Gewalt, verübt von Kriminellen, die Duggans Tod als Ausrede für ihre Lust an der Destruktion missbrauchten. Beobachter aus dem linken Lager taten sich hingegen schwer, die Ereignisse zu analysieren und einzuordnen. Auf eine Einschätzung folgte die nächste und wiederum die nächste, immer schwankend zwischen Solidarität mit den Aufständischen und Kritik an der Form des Aufstands. Der Sammelband »Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«, erschienen in der Reihe Laika Diskurs, versucht nun einen Überblick über dieses Gewirr von Stimmen zu verschaffen.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«
»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«

Äußerst heterogen ist dieser Sammelband, und das in vielerlei Hinsicht. Er versammelt Pamphlete, Stellungnahmen und Analysen, geschrieben von Einzelnen oder Gruppen, anonym oder mit Namen versehen. Vieles davon ist lesenswert, anderes uninteressant, weniges ärgerlich. Doch tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf: Es geht um die politische Dimension der Aufstände, um die Folgen und Konsequenzen, um die Anschlussfähigkeit linker Politik und das Verhältnis zu den Revolten der Vergangenheit und heute, im Nahen Osten und Nordafrika – Fragen, auf die Texte ganz unterschiedliche Antworten geben. Nur eines scheint sicher zu sein: Die Situation ist »komplexer […], als es der Trommelwirbel aus Angst und Verachtung in den Konzernmedien vermuten ließe«. Aus diesem Grund sind aber eben jene Beiträge besonders bedenkenswert, die diese Komplexität anerkennen, die die Ambiguitäten nicht auflösen und die nicht versuchen, die Ereignisse in ein festes Interpretationsschema zu pressen.

Viele fragen sich: Was wollen die denn? Die Antwort schien zu lauten: Turnschuhe. Was soll daran politisch sein, bei Foot Locker zu klauen?

Diejenigen, die im August 2011 randalierten und plünderten, sehen sich um ihr Glück betrogen und sind nicht so dumm, den alltäglichen Beteuerungen und Beschwichtigungen länger zu glauben. Ihre Gewalt richtete sich aber nicht primär gegen die, die für diese Zustände verantwortlich sind, sondern gegen Menschen, denen es nur unwesentlich besser geht – kleine Ladenbesitzer, Nachbarn und Anwohner. Evan Calder Williams weist in seiner Analyse darum ganz zurecht auf den Umstand hin, dass Opfer und Täter nicht allzu verschieden sind. Außerdem merkt er an, dass die Unruhen eines ganz materialistischen Kern haben, nämlich die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Auch dieser Aspekt wird in den Texten immer wieder aufgegriffen. In eben diesem Sinne sieht etwa Slavoj Žižek in den Protesten eine »ironische Antwort auf die Konsumideologie«:

Ihr ruft uns auf zu konsumieren und nehmt uns zugleich die Mittel, dies zu tun – hier sind wir nun und machen es in der einzigen Weise, die uns bleibt!

Zugleich bemängelt er aber »die Tatsache, dass die Aufständischen kein Programm haben«. Der »Protest am Nullpunkt« bringe »eine authentische Wut zum Ausdruck, die jedoch nicht in der Lage ist, sich in ein positives Programm gesellschaftlichen Wandels zu transformieren«. Es herrsche »der Geist der Revolte ohne Revolution«. Übrigens ist Žižeks Text mit dem Titel eines Smiths-Klassikers überschrieben: »Shoplifters of the World«. Er traut sich nicht hinzuzufügen: »Unite and take over«.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«. Laika: Hamburg 2012.