Kein Weg führt daran vorbei, an einer Liste der besten Bücher des Jahres 2012.
Sie soll als Protokoll dienen, als Licht im Dschungel, Happening, Klischeebekundung und unbedingte Empfehlung.
Wir haben uns im Dienste der Literatur die Haare gerauft und Koalitionen geschlossen. Doch kam niemand von uns an diesen zehn Büchern des Jahres vorbei. Es sind die besten Bücher. Finden wir!
(Die Liste ist nach alphabetischen Gesichtspunkten sortiert. Ohne Präferenzen.)

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Foto: Megan Lewis

Nein, wir befinden uns nicht im Jahr 1968, wie die Überschrift vielleicht vermuten lässt. Sondern im Sommer des Jahres 1965 in Corrigan, einer kleinen Stadt in Australien. Sie ist der Schauplatz von Craig Silveys Roman »Wer hat Angst vor Jasper Jones?«, der im September erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Laut dem 13-jährigen Protagonisten Charlie Bucktin ist es der heißeste Sommer, an den er sich erinnern kann. Doch nun zum Inhalt: Eines Nachts klopft Jasper Jones, der Außenseiter des Städtchens, an Charlies Fenster und nimmt ihn mit, um ihm einen grausamen Fund zu zeigen: Jasper hat die erhängte Laura Wishart auf seiner Lichtung im Busch gefunden. Diese Entdeckung wirkt wie ein Katalysator für den Roman. In dieser Nacht, in diesem Sommer verändert sich alles – nicht nur für Charlie.

Jasper, der Sohn eines Weißen und einer Aborigine, und Charlie beschließen, die Leiche Lauras in einem kleinen See verschwinden zu lassen und auf eigene Faust nach ihrem Mörder zu suchen – etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig, denn beiden ist klar, dass man Jasper sofort für den Schuldigen halten würde. Und Charlie, der am Anfang noch an der Richtigkeit dieser Entscheidung gezweifelt hat, verliert diese Skepsis mit der Zeit:

In diesem Moment wurde mir klar, dass wir vielleicht wirklich aus den richtigen Gründen das Falsche getan hatten. Wenn wir Laura Wishart dort gelassen hätten, wo sie war, würde man sie finden. Irgendwann würde jemand auf diese Lichtung stoßen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie Jasper damit in Verbindung brachten. Er hatte recht. Diese Stadt suchte tatsächlich nur nach einem Vorwand. Und eine Zufälligkeit hätte ihnen gereicht.

Er realisiert, wie ungerecht und verlogen die Gesellschaft Corrigans, angefangen bei seiner eigenen Familie, ist. Aber zunächst erliegen auch er und Jasper den gängigen Vorurteilen, schließlich verdächtigen sie einen anderen gefürchteten Bürger Corrigans, Jack Lionel, der Mörder von Laura zu sein.

Silveys Roman ist vielfältig: Die Auflösung des vermeintlichen Mordfalls steht zwar im Fokus und hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht, aber daneben zeichnet der Schriftsteller auch ein scharfes und erschreckendes Bild der Gesellschaft einer australischen Kleinstadt Mitte der 1960er Jahre, die geprägt ist von Rassismus, Gewalt, Ungerechtigkeit, Paternalismus und Spießbürgerlichkeit. In der es vor allem um die Aufrechterhaltung der eigenen Fassade geht, um die Abgründe, die sich dahinter auftun, zu verbergen. Dabei knüpft der Autor auch zeitgenössische Ereignisse wie die Mondladung oder den Vietnamkrieg in die Geschichte ein. Und er erzählt die Geschichte von Charlie, aber auch von Jasper und von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft. Die Dialoge zwischen beiden, in denen es um elementare menschliche Dinge und Fragen geht, gehören zu den Stärken des Romans:

Es muss beruhigend sein, tatsächlich an Gott und Jesus und all den Kram zu glauben. Vielleicht füllt einen das so aus, dass man sich keine Sorgen mehr darüber machen muss. Aber irgendwie ist es auch, als würde man die Tür zumachen, weil es draußen kalt ist und zieht, nicht? Deswegen bleibt es draußen trotzdem weiter kalt, nur man merkt es nicht mehr, weil einem selbst warm ist.

Der 1982 geborene Autor, der neben dem Schreiben Sänger und Songwriter der Band »The Nancy Sikes!« ist, wurde für den Roman bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Im Text finden sich zahlreiche Verweise auf die amerikanischen Südstaatenliteratur, etwa Harper Lees »Wer die Nachtigall stört« oder Mark Twains Klassiker »Die Abenteuer des Tom Sawyer«, mit denen Silveys Werk zurecht verglichen wird.

Das einzige „Manko“ für nicht-sportbegeisterte Leser könnte vielleicht die sehr ausführliche Beschreibung der Cricket-Turniere sein – denn der australische Volkssport spielt auch in Corrigan eine wichtige gesellschaftliche Rolle.  Aber das tut dem Roman insgesamt keinen Abbruch und man kann, so finden wir jedenfalls, darüber hinwegsehen.

Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Aus dem Englischen von Bettina Münch. Rohwolt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg 2012.