beginnersEs ist das Ende, das entscheidet. In der erschütternden Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen« wird es deutlich, welche Auswirkungen die Arbeit des Lektoren Gordon Lish auf die Texte von Raymond Carver hatte. Plötzlich ist alles anders.

Doch der Reihe nach: Die Short Stories von Carver, die John Updike und Philip Roth zum Schreiben bemüßigten, faszinierten die Verschwörungstheoretiker über Jahre hinweg: Was bleibt übrig von Carver, wenn man Lish subtrahiert? Ist Carver überhaupt Carver? Was ist Carver wirklich? Ist es wahr, dass die Texte von Raymond Carver, der als »the godfather of literary „minimalism“«¹ gefeiert wird, von seinem Lektoren Gordon Lish nicht nur teilweise bis zu 70% reduziert wurden, sondern auch Handlungen und auch Charaktere gebeugt wurden?

Nur schwerlich konnte man diese Gerüchte auf den Prüfstand stellen, galten die Manuskripte doch  mitunter verschollen. Dem italienischen Schriftsteller und Literaturkritiker Alessandro Baricco fiel einst das Original der Kurzgeschichte »One more thing« in die Hände, die er sogleich mit der veröffentlichten Version verglich. Erschüttert schrieb er: »Es ist, als ob man entdeckt, dass die Originalversion von „Warten auf Godot“ damit endet, dass Godot auftaucht und etwas Sentimentales sagt.«² Baricco fragte, ob »eines der größten Vorbilder zeitgenössischer Erzählkunst ein künstliches Modell war. Im Labor erzeugt.«² Doch kann man diesen Sachverhalt verifizieren, wenn nur ein einziger Textvergleich der Öffentlichkeit vorliegt?

»Das nennst du Liebe, L.D.?«, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. Es war ein grausamer, bohrender Blick, und er hielt ihn aus, solange er konnte.

Im Jahre 2009 gaben Tess Gallagher, die Witwe Raymond Carvers, William L. Stull und Maureen P. Carroll »Beginners« heraus, die Manuskripte der berühmten Kurzgeschichten-Kollektion »What we talk about when we talk about love«, die in der Bibliothek der Universität Indiana lagerten. Ausgehend hierfür ist das Manuskript, das Carver 1980 an Gordon Lish schickte. Lish kürzte diese Versionen um mehr als 50%. Die Veröffentlichung von »Beginners« im Jahre 2009 war eine Sensation, führten diese Manuskripte doch der staunenden Weltöffentlichkeit vor, wie unterschiedlich Originale und späteren Veröffentlichungen tatsächlich waren. Nun veröffentlicht der S. Fischer Verlag diese Manuskripte erstmals in deutscher Sprache.

Raymond Carver
Raymond Carver

Auch in den präzisen Übersetzungen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel wird deutlich, wie wichtig die Lakonie, die Aussparungen, das Skizzenhafte der Kurzgeschichten Carvers ist. In den Originalversionen tauchen plötzlich Namen auf, wo man bisher Anonymität vermutete. Weiterhin knapp, skizzenhaft, beängstigend – denn das konnte auch Carver. Doch sind die Sätze bei ihm länger, ausgeschmückt. Biografische Verweise vertiefen die Charaktere, Schauplätze werden offensichtlich. Es ist insbesondere das Ende, die letzten Zeilen der Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen«, das vorführt, wie Carver seine Geschichten entwarf und Lish sie zu Ende dachte.

Die »bedrohliche Ästhetik«, der »K-Mart-Realismus«, das wird hier deutlich, ist mitunter ein Verdienst der sprachlichen Radikalität von Gordon Lish. Carvers eigentlicher Sound ist weicher, beinahe versöhnlicher. Doch sind seine Geschichten in der ursprünglichen Version immer subtiler, in ihrer Deutlichkeit noch verstörender. Baricco schreibt: »Carver hatte vielleicht etwas Schreckliches, doch Faszinierendes im Kopf. Dass das Leid der Opfer unbedeutend ist.«²

»Am Morgen gießt sie mir Teacher’s Whisky auf den Bauch und leckt ihn ab. Am Nachmittag versucht sie aus dem Fenster zu springen.«

Lish verknappte die Geschichten, brach sie auf ihr Skelett herunter. Härter als Hemingway, trostloser als Updike – die Short Stories erzählen das Leben der Verlierer des American Dreams. Getrieben von Alkohol und anderen Süchten, manövrieren sich die Charaktere in eine unausweichliche Isolation. Die Leiden dieser amerikanischen Untergeher sind es, die ein Bild von Amerika zeichnen, welches es so in der Literatur nicht eben häufig gibt. Seine Geschichten sind allesamt suchterregend, in ihrer Ödnis faszinierend brutal. Es ist ein bisschen so, wie beim Trinken eines Whiskeys: Man kann das nur in Maßen genießen, Schluck für Schluck. Ist man maßlos, dann wird man stumpf und besoffen vor Destruktivität und Angst. Es geht dem Leser so, wie Carvers Charakteren.

Doch sind es nur die Geschichten, die ausschlaggeben sind? Was ist mit der Atmosphäre, dem Stil, dem Sound? Die Lakonie, die Aussparungen – sie tragen maßgeblich zur Faszination der Kurzgeschichten bei. Es ist nicht zu leugnen.

Gordon Lish
Gordon Lish

Die Eingriffe Lishs ließen Carver nicht kalt, sie zermürbten ihn. »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Auswahl der Briefe angefügt, die Carver an seinen Lektoren schrieb. Hin- und hergerissen zwischen Dank, Unterwerfung, Verzweiflung und Unsicherheit, schrieb Carver:

»Wenn das Buch herauskommt und ich […] das Gefühl habe, dass ich zu viele Zugeständnisse gemacht habe, […] dann kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.«

Bleibt die Frage, von welcher Relevanz diese Offenlegung nun in der Rezeption der Kurzgeschichten Carvers ist. Spielt es eine Rolle? Verlieren die Geschichten nun ihre Faszination? Nein.

Die Veröffentlichung von »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Erweiterung der verstörenden Weltansicht Carvers. Sie zeigen das Elend in größeren Ausschnitten, pathetischer vielleicht, aber nicht eben liebevoller. Es ist der Beweis, dass Raymond Carver der große Schriftsteller war, für den man ihn seit »Will you please be quiet, please?« halten konnte: Als mitunter wichtigste Stimme der zeitgenössischen amerikanischen Literatur.

Raymond Carver: »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen«. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel. S. Fischer Verlag:  Frankfurt 2012.

 

¹ Kirk Nesset, »The Stories of Raymond Carver. A Critical Study«, Athens: Ohio University Press, 1995, S. 2.

² Alessandro Baricco, »Godot ist doch gekommen. Wie Lektoren Literaturgeschichte umschreiben«, in: Die Welt, 29.05.19999, S. 9.