Es war der Aufreger der Buchmesse 2013: Paulo Coelho, dessen Gesicht man schon einmal vorsorglich auf alle Shuttle-Busse und sonstig verfügbare Flächen geklebt hatte, gab bekannt, er würde nicht nach Frankfurt kommen.
Als Grund gab der 66-Jährige die Korruption in seinem Land an, die anscheinend auch in der Auswahl der Autoren ihre Klauen ausstreckte. Von den 70 Autoren, die eingeladen wurden, so Coelho, kenne er nur 20, die anderen seien vermutlich eher die Freunde von irgendwem, und weniger wegen ihrer literarischen Größe vor Ort, als vielmehr durch Vetternwirtschaft. Ein schwerer Vorwurf, wenn auch kein völlig unbegründeter, da sich Brasilien nach wie vor mit Themen wie der Korruption oder der Gewalt durch Staatsorgane auseinandersetzen muss. Weiterlesen

Viele Stimmen, keine Zeit. Unser kollektiver Rückblick auf die größte Bücherschau der Welt.

Die Vorzeichen standen schlecht, am Mittwochmorgen, als wir die S-Bahn verließen, um unsere Buchmesse-Tickets zu zücken: Eine Armada hektischer Trolli-Roller rollte mit Anzügen und Gelfrisur auf die schmalen Rolltreppen zu und setzte die Rolltreppenlogistik am S-Bahnhof der Messe sogleich außer Kraft. Das anreisende Fachpublikum nahm es nicht mit Humor und pöbelte auf Fußballstadionniveau vor den heiligen Messehallen herum. Weiterlesen

Boyle_24323_VS_MR1.inddEin neues Jahr, ein neuer Boyle. Beglückte der Hanser-Verlag die Leser 2012 noch mit dem Ausflug ins Tierreich »Wenn das Schlachten vorbei ist«, so steht nun schon das nächste Werk vor der Tür: »San Miguel«, benannt nach der Insel vor der kalifornischen Küste, die gleichzeitig auch den Handlungsort liefert.

Bereits im Vorfeld gab es viel Furore: »Das wird sein erster Roman ohne Sarkasmus!«, sagten die einen, »Er bleibt sich treu«, sagten die anderen. Die Wahrheit liegt – wie so oft – irgendwo in der Mitte. Sicher ist das ein Roman von T. C. Boyle, das merkt man auf jeder Seite, zwischen jeder Zeile, in jedem Gedanken. Doch die Atmosphäre wirkt nüchtern, weniger überdreht, beklemmend. Das Elend passiert, das steht fest, doch beim Leser bildet sich nicht die sonstige süffisante Schadenfreude gepaart mit Fassungslosigkeit, sondern vielmehr Mitleid und Bedauern. Weiterlesen

Marcel Reich-Ranicki (* 2. Juni 1920; † 18. September 2013)

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug
und keiner weiß, wie weit. Weiterlesen

Im Bahnhof einer kleinen Stadt im österreichischen Hinterland wird eine herrenlose Tasche gefunden. Sofort entsteht Panik, das anrückende Bombenkommando entdeckt jedoch kurz darauf, dass sie außer etwas Metallschrott und einigen geschwollen Warnungen nichts bedrohliches enthält. Alle sind erleichtert. Alle? Nein, der Lehrer des Ortes meint in der Art der Aktion und auf den Fahndungsfotos einen seiner ehemaligen Schüler zu erkennen. Für ihn beginnt nun eine Suche nach dem Jungen, dem Grund der Tat und den eigenen Fehlern. Weiterlesen

…sagt der Bärbeiß zum Tingeli. Und das will bei einem echten Bärbeiß etwas heißen. Als durch und durch schlecht gelaunter Kerl kann er wohl nicht anders, als seiner Freude auf diese Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Die Wörterbuch-Definitionen für »bärbeißig« reichen von »auf mürrische bis grimmige Weise grob« über »brummig-unfreundlich« bis hin zu »griesgrämig und übellaunig«. »Der Bärbeiß« von Annette Pehnt, im August beim Hanser Verlag erschienen, macht seinem Namen alle Ehre. Am Anfang jedenfalls. Die neuen Nachbarn (er ist erst vor kurzem umgezogen), lassen sich davon abschrecken. Bis auf das Tingeli:

Das einzige Geschöpf, das immer wieder klingelte, war das Ting
eli. Es hatte nichts anderes zu tun, als herumzutänzeln, Nachbarn zu besuchen, Katzen zu streicheln und Blütenblätter zu zählen.

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Vom Leben im Nachtleben und den damit verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchten erzählt Ju Innerhofers »Die Bar«. Erzählerin Mia arbeitet wochenends als »erprobte Barschlampe« in einem Berliner Szeneclub, wo auch ihre beiden Freunde Jan und Viktor feiern. Berauscht von Alkohol und Drogen und getrieben von den Beats versuchen sie der Realität für einen Augenblick zu entkommen. »Die Bar« ist ein Roman über Hedonismus, Ausschweifung und die Suche nach Glück – und über das, was nach Ende des Sommers davon noch übrig bleibt. 

Wir haben Ju Innerhofer über den Dächern Berlins bei Kaffee und Zigaretten zum Interview getroffen.  

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England, Frankreich, die osteuropäischen Fantasiestaaten Syldavien und Bordurien, der Nahe Osten, Nord- und Südamerika, Tibet, China, Ägypten, der Kongo, Australien – kein Kontinent, den der junge Reporter Tim, die wohl populärste Figur des 1907 geborenen Comic-Autors und -Zeichners Hergé[1], nicht bereist hätte. Sogar der Nordpol und nicht zuletzt der Mond zählen zu seinen Destinationen. Langweilig ist anders. Dass der Künstler, der Belgien zum ersten Mal 1925 mit den Pfadfindern verlassen hat, Zeit seines Lebens wenig verreist ist, mag man kaum glauben. Vor allem dann nicht, wenn man sieht mit welcher Akribie er die verschiedenen Länder, Völker und Kulturen, von der Architektur über die Kleidung, Technik und andere abgebildete Gegenstände bis hin zu kleinsten Details wie einem Zigarettenpapier darzustellen vermag. Weiterlesen

Erstmals für größeres Aufsehen sorgte er mit der Erzählung »Diesseits des Van-Allen-Gürtels«, die 2004 beim Wettlesen in Klagenfurt überraschend mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Es folgte der Bestseller »Tschick« über zwei Jugendliche, die sich in einem alten Lada aufmachen zu einer Reise durch die ostdeutsche Provinz. Zuletzt erschien der furiose Agenten-Roman »Sand« und gewann prompt den Preis der Leipziger Buchmesse 2012.

Gestern ist Wolfgang Herrndorf im Alter von 48 Jahren verstorben. Wie Kathrin Passig via Twitter mitteilt, hat er sich »in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen«. Seit 2010 litt Herrndorf an einem bösartigen Hirntumor. Das Leben mit der Krankheit hat er in seinem Blog »Arbeit und Struktur« dokumentiert und reflektiert.

Mit Wolfgang Herrndorf verliert die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zweifellos eine ihrer interessantesten und besten Stimmen. Nicht auszudenken, was du noch hätte kommen können. Aber es hat nicht sollen sein. Darum sagen wir ganz still und leise danke – für die schönen Stunden mit »Tschick« und mit »Sand«.

War ja klar, dass J. D. Salinger noch was auf Lager hat, der große Verweigerer, die Zunge der ewigen Adoleszenz. Wie sein Biograf Kenneth Slawenski kürzlich verlauten ließ, werden von 2015 an mindestens fünf Werke aus dem Nachlass des 2010 verstorbenen Legenden-Erschaffers veröffentlicht.

Von Familie Caulfield soll es Neuigkeiten geben und auch von Familie Glass. Klingt zu schön um wahr zu sein! Und unverhofft: Die letzte von Salinger veröffentlichte Geschichte geht auf das Jahr 1965 zurück: »Hapworth 16, 1924«, veröffentlicht im US-Magazin »New Yorker«.

Aber man hätte es ja auch ahnen können: »You can’t stop a teacher when they want to do something. They just do it.« (The Catcher in the Rye, 1951).

friedrich_kittler_philosophien_der_literaturZum Abschied waren sich ausnahmsweise alle einig. Als der Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Philosoph Friedrich Kittler im Oktober 2011 verstarb, erinnerten zahllose  Nachrufe an einen großen, unkonventionellen Denker. Und niemand versäumte es, auf den anfangs steinigen Weg hinzuweisen, den Kittler nehmen musste. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, welche Provokation es für die geisteswissenschaftliche Zunft hier zu Lande darstellte, als Kittler mit allerhand französischen Poststrukturalismen bewaffnet die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« forderte. Das war neu, das war unerhört – zumal von einem, der noch nicht einmal einen Lehrstuhl inne hatte. Der Sammelband über die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« erschien 1980, Kittler war nur Assistent am Deutschen Institut an der Universität Freiburg. Erst vier Jahre später erfolgte die Habilitation – nach einem Habilitationsverfahren, das in der deutschen Universitätsgeschichte wohl einmalig ist. Anstelle der üblichen drei brauchte es dreizehn Gutachten bis Kittlers Studie »Aufschreibesysteme 1800/1900« endlich akzeptiert wurde. Auch diese Schrift eine Provokation, inhaltlich wie stilistisch: In der Deduktion der Schreibweisen einer Epoche aus den dominierenden Medientechnologien sahen manche Kritiker einen unheilvollen Mediendeterminismus am Werk. Andere monierten Kittlers apodiktischen Duktus und die mitunter raunende Sprache. Weiterlesen

Die Liste ist da. Und was für eine: Neben Schwergewichten wie Daniel Kehlmann, Reinhard Jirgl, Uwe Timm und Clemens Meyer hat der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher mit seinem grandiosen Debüt-Roman „Frühling der Barbaren“ die Longlist des Deutschen Buchpreises 2013 geentert. Zurecht. Wir drücken ihm die Daumen.

Am 11. September geht’s in die nächste Runde. Solange lesen wir uns noch an Roman Ehrlichs grandiosem Debüt „Das kalte Jahr“ fest. Denn das vermissen wir schmerzlich auf dieser langen Liste. Weiterlesen