Sex und Drogen. Krieg und Politik. Zu allem Überfluss auch noch Literatur. Es ist ein Leben wie im Roman, aber Eduard Limonow gibt es wirklich. Als Eduard Weniaminowitsch Sawenko während des zweiten Weltkriegs im sowjetischen Dserschinsk geboren, wächst er in Charkow auf und schlägt sich zunächst als Kleinkrimineller durch. Schnell kommt er mit dem literarischen Untergrund in Berührung und sieht im Schreiben seine Chance auf den Durchbruch, auf Anerkennung, Erfolg und nicht zuletzt auch auf das große Geld. Er wählt den Künstlernamen Limonow, der sowohl auf das russische Wort für Limone als auch auf den Spitznamen der sowjetischen Handgranate F-1 verweist. Und zumindest die Anerkennung ist ihm vergönnt, denn schnell wird der Avantgarde-Lyriker Limonow zum Geheimtip und Mittelpunkt der Charkower Bohème. Das Nötigste zum Überleben verdient der Dandy unterdessen mit dem Schneidern von Hosen. Weiterlesen

Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.
Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.

Nach der Party der Independents am Freitagabend im Literaturhaus, wo auch der Hauptpreis der »Hotlist« vergeben wurde, geht es am Samstag mäßig verkatert Richtung Buchmesse. Kaum sind die üblichen Hindernisse (RMW, VGF, immerhin beträgt die Verspätung nur dreißig Minuten) überwunden, zeigt sich schon, dass es mit der Ruhe und Beschaulichkeit endgültig vorbei ist. Samstag ist der erste Besuchertag, und viele nutzen die Gelegenheit zum Erkunden und Stöbern. Auf den Gängen und besonders in den Hallen tummeln sich wahre Menschenmassen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Mehr Andrang herrschte wohl nur am Mittwoch bei Arnold Schwarzenegger, als der sein neues persönliches Drei-Schritte-Programm (»Terminator« – »Governator« – »Educator«) vorstellen durfte.

Matthias Matussek haben wir aber leider nicht getroffen.

12.00 Uhr: Milena Michiko Flašar liest aus »Ich nannte ihn Krawatte«, das Publikum hört gebannt zu. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein ohnehin schon guter Text zusätzlich an Reiz gewinnt, sobald er nur richtig gelesen wird. Und richtig heißt soviel wie: adäquat, der Stimmung des Textes und seiner sprachlichen Gestaltung angemessen. Diktion, Phrasierung, hier passt einfach alles. Gibt‘s schon ein Hörbuch?

13.00 Uhr: Interview mit Milena Michiko Flašar. Wird hier in Kürze zu lesen sein!

Menschen

In einem Pavillon im Innenhof signiert irgendein skandinavischer Krimiautor (vielleicht Thomas Steinfeld) seine Bücher. Vor dem Pavillon ist eine rund fünfzig Meter lange Schlange, viel länger als vor den wenigen Fressbuden. Vielleicht liegt das daran, dass vornehmlich ältere Messebesucher sich mit einem solchen Eifer auf das rare Gratisessen in den Hallen stürzen, dass man den unwillkürlich Eindruck bekommt, es wäre die letzte Mahlzeit vor der Apocalypse.

Mehr Menschen

Auch in diesem Jahr war die Frankfurter Buchmesse Treffpunkt vieler Cosplayer. Das sind überwiegend junge Menschen, die »einen Charakter – aus Manga, Anime, Computerspiel oder Film – durch Kostüm und Verhalten möglichst originalgetreu darstellen«. Scheint ihnen Spaß zu machen, ist aber für Außenstehende weder besonders spektakulär noch ein Grund zur Ärgernis. Davon abgesehen wird Frankfurt das ganze Jahr über von Menschen in lustiger Verkleidung heimgesucht (Banker, Eintracht-Fans, Studenten).

Der zweitliebste Österreicher des Tages nach Milena Michiko Flašar ist der Mann vom Septime Verlag. Dem Wiener Dialekt möchte man den ganzen Tag lauschen, auch wenn für ungeübte Ohren bei weitem nicht alles verständlich ist. Macht aber nichts, entscheidend sind Charme und Herzlichkeit. Außerdem ist da noch das tolle Verlagsprogramm. Unbedingt merken.

Später Nachmittag, die Kräfte lassen nach. Wir sagen Adieu! Es war sehr schön, bis zur Buchmesse 2013.

Von Außen sehen die Messehallen auch ganz schön aus.

 

Weltentdecker

Heute ist der letzte Fachbesuchertag, schon am späten Vormittag drängen sich ebenjene und die Pressevertreter durch die Messehallen. Während gestern eines der kulinarischen Highlights in Halle 3 der Popcorn-Stand vom Brockhaus-Verlag war, scheint es heute die Gratissuppe im essbaren Schälchen zu sein, die am Stand eines Kochbuch-Verlages an hungrige Messebesucher verteilt wird.

Neben den aufwendig gestalteten Ständen der großen Verlage sind auch kleine, weniger bekannte Verlage vertreten – viele mit einem tollen Programm und einige etwas kuriose Verlage, in der spirituellen Ecke in Halle 3.1 etwa »Happy Science Deutschland«, dessen japanischer Messias (für alle die es noch nicht wissen: der lebende Buddha des 21. Jahrhunderts!) seinen Rezipienten Erleuchtung verspricht … Besonders gut gefällt uns der Stand von »Kein & Aber«, der mit Wohnzimmer-Atmosphäre zum Aufenthalt einlädt.

Das Sofa sieht gemütlich aus. (Messestand von »Kein & Aber«)

Verweilen kann man auch ganz gut im Neuseeland-Pavillon, in dem das diesjährige Gastland seine Bücher ausstellt (wobei man die hier eher suchen muss). Am Eingang weisen freundliche Messe-Mitarbeiter darauf hin, dass man auf die Wasserflächen Acht geben soll. Hinter der Tür empfängt uns dann Dunkelheit und ein sich im Wasser spiegelnder Mond – ganz nach dem Motto des Gastlandes »While you were slepping« (Andrea Diener  hat in einem Beitrag der FAZ-Messezeitung vom Donnerstag interessante Theorien darüber aufgestellt, was nachts wohl im Neuseeland-Pavillon passiert, dann müsste es dort schließlich hell sein: FAZ-Artikel von Andrea Diener

»Dunkel war’s, der Mond schien helle« (Neuseeland-Pavillon)

Ach ja, und die Bücher, die hängen an Drahtseilen in vielen kleinen Zelten, deren Eingang von folkloristischen Masken gesäumt ist. Dazwischen bieten zahlreiche Sitzflächen die Möglichkeit sich auszuruhen und dabei einer der vielen „Performances“ mit singenden und tanzenden Maori beizuwohnen, die mehrmals am Tag stattfinden.

Bücherzelt (Neuseeland-Pavillon)

Nach der Mittagspause läuft uns am Stand von Klett-Cotta eine der ersten Cos-Playerinnen über den Weg. Ein Zeichen dafür, dass das Wochenende und damit die Besuchertage nahen? Wir schlendern weiter durch Halle 4 und treffen auf einen netten Herrn beim »Bollmann Bildkarten Verlag«. Er erzählt uns, dass man seinen Großvater den »Merian des 20. Jahrhunderts« nannte und zeigt uns die Stadtkarten, die der Verlag seit 1948 vertreibt. Auf den ersten Blick erinnern sie an neuzeitliche Stiche, aber die Wolkenkratzer auf der Karte Frankfurts sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Karte doch jüngeren Datums sein muss. Ein paar Schritte weiter werden an einem Stand (interaktive) Globusse ausgestellt, leider funktioniert der Stift für die interaktiven Funktionen gerade nicht …

Weltentdecker

Wir bleiben kurz bei der Lesung eines neuseeländischen Autors stehen, gehen dann aber doch weiter, denn gleich fängt die Verleihung des Jugendliteraturpreises an. Deswegen können wir auch leider nicht auf einem der Massagestühle Platz nehmen, wo geschultes Personal auf verspannte und gestresste Literaturkritiker wartet.

Neuseeländischer Autor bei einer Lesung

Nachdem wir das Congress-Centrum und den »Saal Harmonie« gefunden haben, sind wir erstaunt über die Größe der Veranstaltung (der Deutsche Jugendliteraturpreis wurde in diesem Jahr zum 57. Mal verliehen, seit sieben Jahren findet er in diesem großen Rahmen statt), der Moderator verrät später, dass im Publikum 1200 Gäste sitzen (und stehen!).

Gleich geht’s los …

Den üblichen Grußworten, heute von Stephanie Jentgens, Alexander Skippies, Jürgen Boos und Lutz Stroppe, folgt die Bekanntgabe der Jury-Entscheidung

Kinderbuch: »Frerk, du Zwerg!«

Bilderbuch: »Mia schläft woanders«

Jugendbuch: »Es war einmal Indianerland«

Sachbuch: »Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? «

Preis der Jugendjury: »Sieben Minuten nach Mitternacht«

Sonderpreis Gesamtwerk Illustration: Norman Junge

Die Preisträger auf dem Sofa

Ein kleiner Höhepunkt während der bisweilen etwas synthetisch wirkenden Veranstaltung (eine Stimme aus dem Off führte zusammen mit dem Moderator durch den Abend) ist die Übergabe des Preises in der Sparte Sachbuch an Oscar Brenifier, den Autor von »Was wäre, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da?«: Als der Moderator ihm den Preis überreichen will behauptet er

I’m not the author of this book.

und verweist auf eine Dame im Publikum, die, wie sich herausstellt als sie auf die Bühne kommt, seine deutsche Verlegerin ist. Sie klärt schließlich auf:

Er ist der Autor des Buches, er macht bloß immer Witze …

Zwischendurch sorgt das Ensemble »Ritmatak!« für Unterhaltung: Ihr Programm besteht daraus, dass sie mit »scheinbar banale[n] Alltagsgegenständen« (heute natürlich Bücher) Klänge erzeugen. Ihr Auftritt kommt im Allgemeinen gut an, allerdings nicht bei allen (dem Autor von »Es war einmal Indianerland« scheint die Zweckentfremdung nicht zuzusagen). Sekt und Häppchen im Anschluss an die Preisverleihung lassen wir aus und machen uns auf den Weg nach Hause – für heute haben wir genug gesehen, gehört und gelesen …

 

 

Ganz entspannt: Christian Preußer ist am Morgen frohen Mutes
Ganz entspannt: Christian Preußer ist am Morgen frohen Mutes

Die Lehre der diesjährigen Buchmesse ist klar verständlich und erbauend: Jeder ist ein Autor, er muss nur mindestens im Internet einen Blog unterhalten. Wo einst das Sterben der Musikbranche feierlich ignoriert wurde, wird heuer der anstehende Tod des Buchhandels thematisiert: auf dem Frankfurter Messegelände. Die Verlage sind nervös, die Autoren gelassen. Mit Jussi Adler-Olsen im Geiste treffen wir uns zur Mittagszeit vor dem Bratwurststand und untermauern unsere eigenen Visionen mit »Pommes Rot-Weiß«.

Mit großen Augen irren wir durch den Bücherwald der Verlagsgruppe Random House. Eine blonde Medienfrau (die eigentlich gerade über einen Witz von Elke Heidenreich lachen wollte) klärt uns auf: »Die Verlagsgruppe Random House, Inc. inklusive der zugehörigen Dachmarke Random House befindet sich im Besitz der Bertelsmann AG und fungiert als Dachgesellschaft für alle Bertelsmann-Verlage.« Als ob wir das nicht schon von Wikipedia wissen würden. Das ausgestellte Programm dieses Verlags-Kolosses lässt uns ratlos zurück. Wir fragen uns, ob denn nicht schon viel zu viele Menschen »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« gekauft und womöglich auch gelesen haben. Zügig bahnen wir uns unseren Weg durch die Gassen. Auf den überfüllten Toiletten schütteln wir uns kräftig durch. Es wird besser, denn bald schon kommen wir am Stand unseres heimlichen Lieblingsverlages liebeskind an. Die Auswahl der Bücher ist herrlich. Die Gruppe einigt sich: Das gesamte Programm ist toll. Wir reißen uns schweren Herzens los. Wir haben Termine.

Irgendwo auf diesem Bild hat sich Lothar Matthäus versteckt (Foto: Vox)

Zur Verabredung mit Andreas Stichmann treffen wir pünktlich am geschniegelten Rowohlt-Stand ein. Wir wollen über seinen gefeierten Debüt-Roman »Das große Leuchten« sprechen, haben aber ganz vergessen, dass Lothar Matthäus zeitgleich seine Autobiographie auf der Messe vorstellen will. Ein mittelschwerer Fauxpas, der uns bei der Messevorbereitung unterlaufen ist. Immerhin haben wir das Gelände nun für uns alleine: Die Polizisten sind beschäftigt, die Fotografen abgestellt und der Hof ist leer. In entspannter Atmosphäre plaudern wir mit Andreas Stichmann über die Vorzüge und Gefahren des Reisens. Wir beschwören unsere gemeinsame Bewunderung für Leif Randts »Schimmernder Dunst über CobyCounty« herauf und verabreden uns »auf bald!«

Heim geht's!

Kaum haben wir uns umgedreht, läuft uns die wunderbare, talentierte, anmutige Olga Grjasnowa über den Weg. Schnell ist ein Termin fürs ungezwungene Plaudern gefunden, abseits des großen Auflaufs. Noch bevor wir uns verabschieden, haben wir uns heimlich verliebt.
Während die Bestellung des ersten Bieres auf sich warten lässt, rattert Burkhard Spinnen an uns vorbei. Auf unseren flotten Anmachspruch von der Seite geht er nicht ein – er ist im Gespräch mit seiner Frau. Das Bier ist Essig. Wir trinken lieber Wein – und das am Abend in unserem Stammlokal im Frankfurter Nordend. Die trockene Luft in den Messehallen ist nicht jedermanns Geschmack.

Franziska Vorhagen und Emil Fadel warten auf Klett-Cotta
Franziska Vorhagen und Emil Fadel warten auf Klett-Cotta

Wenn auf einmal hunderttausende Menschen aus aller Welt zusammenströmen, um sich mit Büchern zu befassen, dann dreht es sich entweder um Mitternachtsverkäufe und Zauberschulen, oder die Frankfurter Buchmesse hat wieder ihre Pforten geöffnet. Derselbe Ort, derselbe Wahnsinn, ein neues Jahr: Auf mehreren tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche konnte man wieder alles betrachten, was einem Verlage, Druckereien und sonstige Aussteller feilboten. 2012 war das Octopus-Magazin an jedem Messetag vor Ort, um dem geneigten Leser ein möglichst akkurates Bild von den diesjährigen Höhen, Tiefen und Überraschungen zu vermitteln. Weiterlesen

»Das grüne Zelt«

Betritt man heutzutage an einem schönen Herbsttag eine Buchhandlung, so türmen sich bereits ab der Eingangstür die Neuerscheinungen der meisten Verlage mit Rang und Namen. In bunten Einbänden und mit vielversprechenden Titeln versuchen die meisten Werke, die Aufmerksamkeit des geneigten Käufers bereits beim ersten Hinsehen an sich zu binden. In dieser hin- und herschwappenden Bilderflut aus Bestsellerlisten und Sonderangeboten springt einem derzeit Ljudmila Ulitzkajas Roman »Das grüne Zelt« beim ersten Mal vielleicht nicht unbedingt ins Auge, beim zweiten Blick dafür umso heftiger. Der Titel ist wenig reißerisch, dennoch klingt er geheimnisvoll und weckt Neugierde. Auch der Einband besticht durch seine optische Aufmachung: Farbige Muster ziehen dort konzentrische Kreise und sorgen gemeinsam mit dem Titel dafür, dass man bis zu dem Moment, in dem man das Buch zum ersten Mal aufschlägt, nicht die leiseste Ahnung hat, worum es eigentlich geht. Weiterlesen

Die »Hotlist« prämiert auch in diesem Jahr die zehn besten Bücher von unabhängigen Verlagen. Als wäre das allein aber nicht genug, wurden gestern im Literaturhaus Frankfurt noch zwei Preise vergeben. Für den Literaturverlag Droschl hat sich das Wagnis gelohnt: Tor Ulvens Erzählband »Dunkelheit am Ende des Tunnels« wurde mit dem Hauptpreis der »Hotlist« ausgezeichnet. »Dunkelheit am Ende des Tunnels« ist das erste Buch des 1995 verstorbenen Norwegers, das ins Deutsche übersetzt wurde.

An Tor Ulven fasziniert, dass uns hier ein Autor mit hinein in den finstern Tunnel der Depression nimmt, in dem es unbehaglich zu leben ist. Er macht uns das, was vielen bestenfalls in Ansätzen bekannt ist, fühlbar und vielleicht sogar ein wenig nachvollziehbar. Dass er das mit finsterer Konsequenz und zugleich in einer Art tut, die Formbewusstsein und literarische Kraft, ja zuweilen sogar lichte Momente verrät, das beeindruckt. In dieser Prosa steckt eine Kraft, die authentisch wirkt. Ihr fehlt das ,Gemachte’, Konstruierte.

(Jurymitglied Beat Mazenauer)

Den »Melusine-Huss-Preis« erhält der Peter Hammer Verlag für das Kinderbuch »Der Pirat und der Apotheker« von Robert Louis Stevenson, übersetzt und liebevoll illustriert von Henning Wagenbreth.

Stella Dreis

Zugegeben, ein paar Worte gibt es in Stella Dreis Wimmelbuch »Grimms Märchenreise« schon. Aber erst zum Schluss. Auf einer Doppelseite am Ende des Buches werden die zuvor in Bildern entwickelten Märchen jeweils kurz zusammengefasst. Das 200jährige Jubiläum der Brüder Grimm war für die Illustratorin und den Thienemann Verlag Anlass, dieses Buch herauszubringen.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die die Märchen nicht getrennt voneinander erzählt werden, sondern parallel. Bereits auf der ersten Doppelseite sieht, wer genau hinschaut, alle Haupt- und Nebenfiguren der insgesamt sieben verschiedenen Märchen: Hänsel und Gretel, die sieben Brüder, die später von ihrem Vater zu Raben verwünscht werden, die Bremer Stadtmusikanten, die Ziege und ihre sieben Geißlein, Frau Holle, Schneewittchen, die sieben Zwerge, den gestiefelten Kater und nicht zuletzt das Rotkäppchen. Ihm kommt eine besondere Rolle zu:

Rotkäppchen führt durch Grimms Märchenwelt! Auf jeder Doppelseite ist es sieben Mal zu sehen … Es ist auf der Suche nach seinem roten Käppchen.

Dem Betrachter eröffnen sich beim Anschauen phantasievolle und lebendige Bildwelten, auf denen man das Schicksal der jeweiligen Protagonisten (nachdem man sie gefunden hat!) verfolgen kann. Wenn man die Märchen kennt, macht das umso mehr Spaß. Dann sieht man an den vielen kleinen Details, zum Beispiel dem Uhrenkasten, in dem sich eins der sieben Geißlein vor dem Wolf verstecken konnte, wie intensiv sich Stella Dreis mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Vorher oder parallel zum Anschauen das Grimmsche Märchenbuch aus dem Regal zu nehmen und (nach) zu lesen, ist also empfehlenswert. Und weil es ein »Wimmelbuch« ist, gibt es sehr viel zu entdecken, das Buch mehrmals anzuschauen lohnt sich – man findet fast immer etwas Neues, das man vorher noch nicht gesehen hat.

Stella Dreis ist es mit ihren collagenartigen Illustrationen, die aus mehreren Schichten zu bestehen scheinen, gelungen, die verschiedenen Märchen gekonnt miteinander zu verweben. Der Titel hält, was er verspricht, ihre Bilder nehmen den Betrachter mit auf eine Reise in die Märchenwelt der Brüder Grimm – ganz ohne Worte.

Die 1972 in Plovdiv, Bulgarien, geborene Illustratorin hat schon im Kindesalter begonnen, zu malen. Zu ihren Lehrern gehörten die bulgarische Künstlerin Antoneta Zvetkova und Prof. Popovski. In den frühen 1990er Jahren beschloss sie, nach Deutschland zu gehen, wo sie seit 1995 studiert und arbeitet. Nachdem sie einige Jahre im Modebereich tätig war, wandte sie sich wieder der Illustration zu – für ihr erstes Buchprojekt »De stad die ervandoor ging« (»The city that went away«) wurde sie für den Hasselt Book Price nominiert und ihr Buch wurde bei Clavis Publishers verlegt. Heute lebt und arbeitet sie in Heidelberg.

 

Stella Dreis: Grimms Märchenreise. Ein Wimmelbuch. Thienemann: Stuttgart u.a. 2012.

Stella Dreis im Interview mit dem Thienemann Verlag

 

Angesichts der Inflation der Literaturpreise ist es fast schon eine Auszeichnung, keine Auszeichnung zu erhalten. Zur kleinen Riege der Verschmähten zählte bislang auch Christian Kracht, der nicht zuletzt mit seiner Erfolglosigkeit im Trophäenkampf auch offensiv kokettierte. So ganz stimmte das zwar nicht, immerhin verstaubt der Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar schon drei Jahre im Regal, doch die wichtigen (soll heißen: hoch dotierten) Literaturpreise sind an Kracht bisher tatsächlich vorübergegangen. Von nun an ist es mit der Unschuld allerdings vorbei, denn Krachts Roman »Imperium«  um den Aussteiger und Kokovoren August Engelhardt wird mit dem renommierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es, »Imperium« entwerfe ein »groteskes Sittenbild des frühen 20. Jahrhunderts, in dem Lebensbewegte, Lebensreformer, bärtige Bohemiens und aufbegehrende Aussteiger ihren privaten Wahnsinn zu Welterlösungsideen ausweiteten, übers Meer fuhren, um Land zu gewinnen, und Wahnsinn fanden, den lachenden Tod«. Der Roman balanciere  auf »der Grenze zwischen Komik und Schrecken […] mit großer Sicherheit und bildet so einen bedeutenden Knoten im Gewebe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. Ob das Preisgeld in Höhe von dreißigtausend Euro über den Verlust der literaturpreislichen Jungfräulichkeit hinweg zu trösten vermag?

Neben dem Deutschen Buchpreis wird auf der Frankfurter Buchmesse auch dieses Jahr wieder das beste Buch eines unabhängigen Verlags ausgezeichnet. Noch stehen zehn Titel auf der »Hotlist«, wobei nur sieben von der Jury vorgeschlagen wurden. Ein Publikumsvoting im Internet ermittelte die übrigen drei Nominierten. Eine weitere Besonderheit: Das Preisgeld in Höhe von fünftausend Euro »geht an den Verlag des ausgezeichneten Titels und würdigt damit die verlegerische Leistung«. Das gilt ebenfalls für den »Melusine-Huss-Preis« in Höhe von viertausend Euro, der von den Buchhändlerinnen und Buchhändlern bestimmt wird.

Seit 2009 setzt die »Hotlist« der Dominanz der großen Verlage beim Deutschen Buchpreis ein wirksames Korrektiv entgegen. Vorrangiges Ziel ist es, den kleinen und unabhängigen Verlagen eine Plattform zu bieten, Aufmerksamkeit zu generieren und dadurch langfristig die Vielfalt der Verlagslandschaft zu erhalten und zu stärken. Denn die Existenz unabhängiger Verlage sei »für die deutschsprachige Bücherlandschaft die Garantie von Würze, Farbigkeit und Vielfältigkeit, für verlegerischen Mut, neue Ideen, die Bewahrung von Schätzen, hartnäckige Qualität oder auch aufrechte Pflege des Leisen und Feinsinnigen und von vielem mehr«.

Die Preisverleihung findet am 12. Oktober bei der Party der Independents im Literaturhaus Frankfurt statt.

 

Die »Hotlist« 2012:

  • Jeffrey Yang: Ein Aquarium. Gedichte. Berenberg Verlag.
  • Miklós Vajda: Mutterbild in amerikanischem Rahmen. Roman. Braumüller Verlag.
  • Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss. Roman, Diaphanes.
  • Tor Ulven: Dunkelheit am Ende des Tunnels. Geschichten, Literaturverlag Droschl.
  • Michèle Roten: Wie Frau sein. Protokoll einer Verwirrung. Echtzeit Verlag.
  • Lukas Meschik: Luzidin oder Die Stille. Roman. Jung und Jung.
  • Peter Gizzi: Totsein ist gut in Amerika. Gedichte. luxbooks.
  • Robert Louis Stevenson / Henning Wagenbreth: Der Pirat und der Apotheker. Eine lehrreiche Geschichte. Peter Hammer Verlag.
  • Tamta Melaschwili: Abzählen. Roman. Unionsverlag.
  • Helon Habila: Öl auf Wasser. Roman. Verlag Das Wunderhorn.
Foto: Megan Lewis

Nein, wir befinden uns nicht im Jahr 1968, wie die Überschrift vielleicht vermuten lässt. Sondern im Sommer des Jahres 1965 in Corrigan, einer kleinen Stadt in Australien. Sie ist der Schauplatz von Craig Silveys Roman »Wer hat Angst vor Jasper Jones?«, der im September erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Laut dem 13-jährigen Protagonisten Charlie Bucktin ist es der heißeste Sommer, an den er sich erinnern kann. Doch nun zum Inhalt: Eines Nachts klopft Jasper Jones, der Außenseiter des Städtchens, an Charlies Fenster und nimmt ihn mit, um ihm einen grausamen Fund zu zeigen: Jasper hat die erhängte Laura Wishart auf seiner Lichtung im Busch gefunden. Diese Entdeckung wirkt wie ein Katalysator für den Roman. In dieser Nacht, in diesem Sommer verändert sich alles – nicht nur für Charlie.

Jasper, der Sohn eines Weißen und einer Aborigine, und Charlie beschließen, die Leiche Lauras in einem kleinen See verschwinden zu lassen und auf eigene Faust nach ihrem Mörder zu suchen – etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig, denn beiden ist klar, dass man Jasper sofort für den Schuldigen halten würde. Und Charlie, der am Anfang noch an der Richtigkeit dieser Entscheidung gezweifelt hat, verliert diese Skepsis mit der Zeit:

In diesem Moment wurde mir klar, dass wir vielleicht wirklich aus den richtigen Gründen das Falsche getan hatten. Wenn wir Laura Wishart dort gelassen hätten, wo sie war, würde man sie finden. Irgendwann würde jemand auf diese Lichtung stoßen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie Jasper damit in Verbindung brachten. Er hatte recht. Diese Stadt suchte tatsächlich nur nach einem Vorwand. Und eine Zufälligkeit hätte ihnen gereicht.

Er realisiert, wie ungerecht und verlogen die Gesellschaft Corrigans, angefangen bei seiner eigenen Familie, ist. Aber zunächst erliegen auch er und Jasper den gängigen Vorurteilen, schließlich verdächtigen sie einen anderen gefürchteten Bürger Corrigans, Jack Lionel, der Mörder von Laura zu sein.

Silveys Roman ist vielfältig: Die Auflösung des vermeintlichen Mordfalls steht zwar im Fokus und hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht, aber daneben zeichnet der Schriftsteller auch ein scharfes und erschreckendes Bild der Gesellschaft einer australischen Kleinstadt Mitte der 1960er Jahre, die geprägt ist von Rassismus, Gewalt, Ungerechtigkeit, Paternalismus und Spießbürgerlichkeit. In der es vor allem um die Aufrechterhaltung der eigenen Fassade geht, um die Abgründe, die sich dahinter auftun, zu verbergen. Dabei knüpft der Autor auch zeitgenössische Ereignisse wie die Mondladung oder den Vietnamkrieg in die Geschichte ein. Und er erzählt die Geschichte von Charlie, aber auch von Jasper und von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft. Die Dialoge zwischen beiden, in denen es um elementare menschliche Dinge und Fragen geht, gehören zu den Stärken des Romans:

Es muss beruhigend sein, tatsächlich an Gott und Jesus und all den Kram zu glauben. Vielleicht füllt einen das so aus, dass man sich keine Sorgen mehr darüber machen muss. Aber irgendwie ist es auch, als würde man die Tür zumachen, weil es draußen kalt ist und zieht, nicht? Deswegen bleibt es draußen trotzdem weiter kalt, nur man merkt es nicht mehr, weil einem selbst warm ist.

Der 1982 geborene Autor, der neben dem Schreiben Sänger und Songwriter der Band »The Nancy Sikes!« ist, wurde für den Roman bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Im Text finden sich zahlreiche Verweise auf die amerikanischen Südstaatenliteratur, etwa Harper Lees »Wer die Nachtigall stört« oder Mark Twains Klassiker »Die Abenteuer des Tom Sawyer«, mit denen Silveys Werk zurecht verglichen wird.

Das einzige „Manko“ für nicht-sportbegeisterte Leser könnte vielleicht die sehr ausführliche Beschreibung der Cricket-Turniere sein – denn der australische Volkssport spielt auch in Corrigan eine wichtige gesellschaftliche Rolle.  Aber das tut dem Roman insgesamt keinen Abbruch und man kann, so finden wir jedenfalls, darüber hinwegsehen.

Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Aus dem Englischen von Bettina Münch. Rohwolt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg 2012.

 

 

 

 

 

 

Ein Park irgendwo in Japan als Schauplatz einer zaghaften Begegnung. Zunächst sind es noch zwei Bänke, auf denen die beiden Männer sitzen, jeder für sich allein. Von seiner Bank aus beobachtet der Erzähler, ein menschenscheuer junger Mann namens Taguchi Hiro, über Tage hinweg, wie ein alternder Büroangestellter Stunde um Stunde auf der gegenüberliegenden Bank verbringt, mit Zeitung lesen, Vögel füttern, Löcher in die Luft starren, schlafen. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, sitzt er dort und vertreibt sich so die Zeit. Zwischendrin wird er von Tränen übermannt. Weil der Erzähler den Namen des Fremden aber anfangs nicht kennt, muss dessen charakteristisches Kleidungsstück, eine rotgrau gestreifte Krawatte, als Namensgeber herhalten. »Ich nannte ihn Krawatte« ist das dritte Buch der jungen österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar und trotz der wenigen beschriebenen Seiten eine große Sensation.

Ich nannte ihn Krawatte.

Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.

Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.

In poetischen Bildern und glasklar entrückter Sprache erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« vom Schicksal der beiden Männer und wie sie sich näher kommen, kennen lernen, anfreunden. Ganz ohne Effekthascherei, dabei aber höchst effektiv, genügen wenige Worte um ein subtiles Gefühl der Melancholie zu evozieren, ja mithin schon ein Versprechen zu geben auf das, was da noch kommen wird: keine heitere Geschichte. Nicht nur, dass der Fremde von tiefer Trauer und Unglück gezeichnet scheint. Auch der bisherige Lebensweg des Erzählers gleicht einer kleinen, privaten Tragödie. Denn die letzten zwei Jahre verbrachte er allein und abgeschottet in seinem Zimmer im Haus der Eltern, ohne Kontakt zur Außenwelt. »Hikikomori« nennt man diese überwiegend jugendlichen oder jungen Exilanten, die für Monate oder gar Jahre die Flucht ins Allerprivateste antreten. In Japan ist das längst ein Massenphänomen, die Schätzungen reichen bis hin zu einer Million Betroffener, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte.

»Ich nannte ihn Krawatte«
»Ich nannte ihn Krawatte«

Im Gespräch mit Krawatte legt Taguchi langsam seine Ängste ab, er tritt den schwierigen und langen Weg zurück in die Gesellschaft und in seine Familie an. Parallel erzählt er, wie es dazu kam, dass er eines Tages mit den Worten »Ich kann nicht mehr« in seinem Zimmer verschwand, das fortan für zwei Jahre zu seiner Höhle, seinem Zufluchtsort werden sollte. Es ist eine berührende Geschichte über die eigene Scham und den Verlust eines geliebten Menschen, welcher Krawatte aufmerksam folgt. Umgekehrt erzählt Krawatte aber auch von sich, dass er seine Arbeit verloren hat und sich nicht überwinden kann, es seiner Frau zu sagen. Stattdessen verlässt er weiterhin täglich zur gewohnten Zeit das Haus, doch anstatt ins Büro geht er in den Park. Scham und Angst, auch auf dieser Seite der Parkbank. Im Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können, sind der Hikikomori und Krawatte verbunden, und eben diese Verbundenheit gibt ihnen Halt.

Wir sagen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge gerade zu biegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren.

Die große Stärke des Romans besteht zweifellos darin, dass er ohne jede Sentimentalität von zwei Existenzen erzählt, die im Jargon der so genannten Leistungsgesellschaft als »gescheitert« gelten dürften. Er erweckt kein Mitleid, aber er gibt Hoffnung. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber die Erinnerung, die im gegenseitigen Erzählen festgehalten ist, spendet immerhin Trost. Eingeschlossen in Melancholie und Traurigkeit zeugt »Ich nannte ihn Krawatte« so vom Willen, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge weiterzumachen, und verbreitet einen zarten Hauch von Optimismus. »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden«, heißt es bei einem anderen großen Österreicher. Flašars Figuren sind am Ende einen Schritt weiter, auch wenn sie nur eines gelernt haben: »Dass es sich lohnt, am Leben zu sein«.

 

Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  

 

Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«. Wagenbach: Berlin 2012.