Halleluja! Wir eröffnen unsere Adventsverlosung mit dem Skandalbuch des Jahres: »Imperium« von Christian Kracht. Doch bevor es jetzt sofort zu Missverständnissen kommt: Wir meinen natürlich nicht diesen läppischen Artikel im Fachblatt für Hitler-Studien, der den Autor des Romans zum »Türsteher der rechten Gedanken« erklärt. Der eigentliche Skandal besteht doch darin, dass »Imperium« beim Deutschen Buchpreis, der ja immerhin den »besten Roman des Jahres« prämieren will, schon an der Longlist scheiterte. Für einen anderen Literaturpreis hat es hingegen gereicht, und der hat sogar einen richtigen Namen. Weiterlesen

Bald ist es wieder soweit. Die Tagen werden kalt, kurz und grau. Blätter fallen von den Bäumen und das Singen der Vögel ist seit Wochen schon verstummt. Menschen verwandeln sich in getriebene, rücksichtslose Zombies, denen Freundschaft und Liebe nichts mehr bedeutet. Und über alle Städte und Dörfer legt sich ein schleimiger Film aus Kitsch und Konsum.

Willkommen, Adventszeit! Weiterlesen

hilfmirjacquescousteau

Machen wir uns einmal nichts vor: Seitdem »Die fabelhafte Welt der Amelie« in den Kinos lief, gibt es immer wieder sowohl Bücher als auch Filme, die zufälligerweise auch von kleinen aufgeweckten und zugleich träumerischen Mädchen erzählen, die sich ihren Weg durch die meist ebenfalls sehr skurril dargestellte Welt bahnen. Das ist an sich nicht weiter schlimm, schließlich geht es in der Literatur ja meistens um das Erschaffen und Recyceln von Prototypen. Auf die Dauer schmälert sich jedoch das Interesse des Lesers, wenn man in einem Klappentext zum wiederholten Mal von »einer unkonventionellen Familie« liest, »deren Tricks und Macken einem noch lange in Erinnerungen bleiben«. Weiterlesen

Foto: Thienemann Verlag

Jonas und Philip, genannt Nase und Lippe, staunen nicht schlecht, als sie bei einem Streifzug durch die örtliche Kanalisation einen Tiger, garniert mit Essenresten, Klopapier und Ähnlichem, aus dem Abwasser fischen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen gewöhnlichen Tiger, sondern um einen der sprechen kann und von sich behauptet, eine alte Dame aus der Nachbarschaft zu sein:

»Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«

Genauso selbstverständlich wie die Raubkatze dies behauptet, beschließen die beiden elfjährigen Protagonisten in Kilian Leypolds Roman »Der Tiger unter der Stadt«, sich um den Tiger, pardon, um Frau Ohm, zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ausgewachsenen sibirischen Tiger handelt, der der größte seiner Art ist. Ihre anfänglichen Berührungsängste vor dem mächtigen Tier erweisen sich allerdings schnell als unbegründet:

»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger.

»Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.

»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in die Sonne.

Während Tante Tiger – so nennen Philip und Jonas die alte Dame im Tigerkörper – anfangs noch nach altersgerechtem Essen und ihren zahlreichen Medikamenten verlangt, merkt sie nach und nach, dass ihr neuer Körper andere Dinge braucht – etwa rohes Fleisch statt Torte. Und sie spürt, dass sie Manches, zum Beispiel ihre Medikamente, gar nicht mehr benötigt.

 » […] die Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als Letztes der Kopfschmerz.«

Der Wegfall der physischen Beschwerden ist nur ein Vorzug ihres neuen Körpers. Im Gespräch mit Jonas und Philip wird ihr klar, dass er auch ein neues Lebensgefühl mit sich bringt. Ein Lebensgefühl, das nicht mehr von Angst, Einsamkeit und Traurigkeit dominiert ist:

 »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut es tut, keine Angst mehr zu haben.«

»Wovor hatten Sie denn Angst?«, fragte Lippe.

»Vor Treppen. Dass ich sie nicht mehr hinaufkomme oder hinunterpurzle. Überhaupt zu stürzen, in meiner Wohnung hilflos am Boden zu liegen und nicht mehr ans Telefon zu kommen. Angst, keine Dose und kein Einmachglas mehr aufzubekommen, und dann, wenn man zu nichts mehr Kraft hat … vor dem Ende.«

Kilian Leypold ist es mit seinem ungewöhnlichen Roman gelungen, auf amüsante, einfühlsame  und intelligent Art und Weise von dem Miteinander von Jung und Alt und dem Altwerden und Altsein überhaupt zu erzählen. Und das tut er kein bisschen schulmeisterlich, sein Roman erinnert vielmehr an ein modernes Großstadtmärchen.

Die entscheidende, omnipräsente Frage, die es vermag, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist: Wie konnte Kunigunde Ohm in den Körper des Tigers gelangen? Doch das verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht. Wir empfehlen: Roman kaufen und nachlesen. Es lohnt sich.

Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau Verlag: Berlin 2010.

Nora Bossong (Foto: Erwin Elsner)

Handtücher kann man noch nicht aus dem Internet herunterladen. Und trotzdem steht die Frottee-Firma »Tietjen & Söhne« vor dem Aus. In ihrem dritten Roman erzählt Nora Bossong schwungvoll vom Aufstieg und Fall eines Essener Familienunternehmens. Einem Unternehmen, dem es nicht gelingen will, in dieser globalisierten Welt Fuß zu fassen.

Rund 100 Jahre hat die Firma auf dem Buckel, der Gründer Justus Tietjen konnte einst das kaiserliche Heer mit Handtüchern aus dem Hause »Tietjen & Söhne« versorgen. Es war der größte Triumph der Firmengeschichte. Die Nachfahren Justus Tietjens verwalten die Firma, machen aus ihr sogar kurzzeitig eine Luxus-Marke. Welche Rolle »Tietjen & Söhne« bei den Nazis spielte, das wird innerhalb der Familie verschwiegen. Ein Handtuch, auf dem ein kleines Hackenkreuz gestickt ist, verschwindet still und leise. New York will die Firma ab den Fünfzigern erobern. Ein Plan, an dem die jeweiligen Geschäftsführer kläglich scheitern. Auch Kurt Tietjen, der den Laden in den Achtzigern übernimmt, wird an der Metropole scheitern.

Es klang wie ein leiser Zweifel, aber Kurt wusste, dass es mehr als das war.

Nora Bossong erzählt in »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« von einer Welt, die nahe zusammengerückt ist und keine Schwachen, Zweifler, Abwägenden gebrauchen kann. Es ist ein Generationen-, ein Bildungs-, ein Firmen-Roman. Es ist ein Buch, einmal angefangen zu lesen, das man nicht aus der Hand legen wird.

Die Crux der Determination: Kurt Tietjen will sich in der Rolle als Chef von knapp 250 Mitarbeitern nicht gefallen. Er ist hineingeboren, in diese harte Hierarchie und sein Vater macht ihm stets deutlich: »Ohne die Firma gäbe es weder dich noch mich!« Die Firma wird auch zum Mittelpunkt des Lebens von Kurt, der eine Frau heiratet, für die er zwar keine innige Liebe empfindet, aber immerhin lässt sie ihn in Frieden. Im Laufe der Jahre beginnt Kurt zu grübeln: Was ist Freiheit? Ist dieses Leben überhaupt lebenswert? Trotz des Wohlstands?

Ihm war nicht nach Reisen zumute. Ihm war nicht einmal danach zumute, anwesend zu sein.

Den Verpflichtungen überdrüssig, taucht Kurt am Ende seiner beruflichen Karriere in den dunklen Gassen New Yorks ab. Luise Tietjen, Kurts Tochter, muss nun die Geschäftsführung von »Tietjen & Söhne« übernehmen. Luise, gerade im Begriff, ihr Philosophie-Studium zu beenden, schlägt sich nun mit Gläubigern herum, mit Analysten und selbstgerechten Firmenteilhabern. Stets hat sie ihren Vater für seine Arroganz und sein Desinteresse verachtet, nun stürzt sie selbst kopfüber in die Hölle der Abhängigkeiten und nimmt Charakterzüge des Vaters an.
Nora Bossong erzählt die Geschichte des Unternehmens aus der Perspektive von Luise und ihrem Vater Kurt. Es ist ein mitreißender, ein meisterlicher Roman, den Nora Bossong geschrieben hat. Mit viel Schwung erzählt sie von gescheiterten Lebensentwürfen und Versagensängsten. Das Herbeisehnen der eigenen Kapitulation und die Verdeckung eigener Schwächen.

Doch ist »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« auch die Geschichte von »Schlecker«, von »Neckermann«, der »Frankfurter Rundschau«  und den anderen traditionsreichen (Familien-) Unternehmen, die dem rasanten Tempo und den Ansprüchen dieser Welt nicht standhalten konnten.
Dank Nora Bossongs Roman versteht man diesen Wahnsinn ein Stückchen besser.

Nora Bossong: »Gesellschaft mit beschränkter Haftung«. Carl Hanser Verlag: München 2012.

 

9783608501155

Würden Agatha Christie, Franz Kafka und Christian Kracht zusammen auf einem Schiff über die Donau fahren, und würden sich diese drei zusammen an einen Tisch setzen, um ihre jeweiligen Stile zu vereinigen, dann wäre das Ergebnis mit Sicherheit ein bemerkenswertes Werk. Eine Mischung aus Krimi, Abstraktem und gewaltiger Identitätskrise. Leider stehen die Chancen schlecht, ein solches Buch noch in die Händen zu bekommen; Kafka und Christie sind längst auf den literarischen Olymp entschwunden und Christian Kracht hat auch andere Dinge zu tun, als auf einem Schiff die Donau hinunterzufahren. Für diejenigen, die jetzt untröstlich sind, und trotzdem gerne einmal jenes Machwerk lesen würden, bleibt Michal Hvorecky zu empfehlen. Denn dessen Roman »Tod auf der Donau« liest sich in der Tat wie eine bunte Mischung der von Grund auf verschiedensten Genres, eine spiralförmige Höllenfahrt, die Donau hinab. Weiterlesen

Gewinner mit Fliege: Juan S. Guse

Nach der Kür kommt die Lesereise: Die vier Gewinner des diesjährigen »open mike«-Literaturpreises der Berliner Literaturwerkstatt kamen bereits einen Tag nach der Preisverleihung nach Frankfurt um ihre prämierten Texte vorzustellen. Entsprechend angespannt war die Stimmung im Orange Peel, gelegen zwischen dem Frankfurter Hauptbahnhof und dem verlassenen Occupy-Camp am Willy-Brandt-Platz: Funktionieren die Texte auch außerhalb des Wettlesens? Und – um Himmels willen – was rückt da nach, an jungen, talentierten, spannenden, interessanten Literaten? Rückt da überhaupt was nach? Weiterlesen

Zwei Männer sitzen auf einer Parkbank irgendwo in Japan. Zuerst beobachten sie einander, dann lernen sie sich kennen, schließlich wird der einen des anderen Rettung. Ganz verschieden sind sie doch beide Außenseiter, die sich von der Welt zurückgezogen haben, Verlierer, die nicht länger fähig sind in der Gesellschaft zu funktionieren. So erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« nicht nur eine berührende Geschichte über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft, sondern streift elegant und unaufgeregt auch von Anfang an die ganz fundamentalen Fragen des Menschseins. Ein kleiner Roman, aber eine große Sensation. 

Milena Michiko Flašar beim Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse über Japan, private Rebellionen und den unverhofften Erfolg.   Weiterlesen

Maeve Brennan

Audrey Hepburn wäre die Idealbesetzung für die Rolle der Maeve Brennan. Das Leben der irisch-amerikanischen Schriftstellerin war tragisch und damit bestens für eine glanzvolle Hollywood-Produktion geeignet. Doch steht Audrey Hepburn für eine Verfilmung leider nicht mehr zur Verfügung und Maeve Brennan ist im kollektiven Gedächtnis fast vergessen. Zu Unrecht, natürlich.
Denn wer die Kolumnen von Brennan liest, die sie als Reporterin zwischen 1954 und 1981 für den »New Yorker« verfasste und kürzlich unter dem Titel »New York, New York« vom Göttinger Steidl Verlag in einer Neuübersetzung veröffentlicht wurden, der wird dem Charme und der Prägnanz der Kolumnistin verfallen.

Sie glaubt, dass kleine, preiswerte Restaurants die eigentlichen Herdfeuer der Stadt New York sind.

Maeve Brennan wurde 1917 in Dublin geboren, mittenhinein in die irische Diaspora. 1934 übersiedelte sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Washington, D.C. und begann schon bald für den »New Yorker« Kolumnen zu verfassen. Als »Talk of the town« fasst sie ihre Betrachtungen alltäglicher New Yorker Begebenheiten zusammen, in welchen die Kolumnistin von Menschen erzählt, die ihr bei Streifzügen durch die Metropole über den Weg laufen. Es sind kleine Geschichten, manche bizarr und skurril, andere anrührend und traurig, in denen sie Männer und Frauen porträtiert, das Leben auf der Straße, in Parks, Cafés, Hotels. In knappen Worten skizziert Brennan dabei ein unüberblickbares New York, zerrissen zwischen den zu diesen Zeiten herrschenden Rassenunruhen, einer gedeihenden Kriminalität und bitterer Verarmung.

Es ist ein baufälliger, von Bars und kleinen Restaurants gesäumter Straßenzug, und gestern Abend schwärmten Matrosen in weißen Uniformen wie Bienen um die Türen all der Bars…

Brennan bemüht sich, innerhalb ihrer Kolumnen zumeist liebevoll und wohlwollend auf das Treiben der Bürger zu blicken. Doch steht auch sie allzu oft irritiert und mit großen Augen vor den Selbstentlarvungen ihrer Zeitgenossen.
Die Kolumnen heißen »Der Mann, der sich die Haare kämmte«, »Ich schaue aus den Fenstern eines alten Hotels am Broadway« oder »Die neuen Mädchen in der 49. Straße West«. Detailliert werden da die Frisur und die Augen, der Gesichtsausdruck und Handbewegungen der Passanten beschrieben. Es sind feine Charakterstudien, mit wenigen Strichen gezeichnet. Polizisten werden durchleuchtet und Geschäftsmänner verfolgt. Maeve Brennan entgeht nichts. Dabei entsteht ein beeindruckendes zeithistorisches Portrait einer Stadt, die niemals zur Ruhe kommt. So wenig, wie ihre Protagonisten.

Wenn jeder in dieser Stadt zur Raison gebracht und in die richtige Richtung geschickt würde, wäre New York schon bald ein sehr ruhiger Ort.

Man blickt durch die Augen der Autorin auf ein längst vergessenes New York, man kommt dem Mythos dieser unfassbaren Stadt näher. So nahe, wie man ihr als Tourist niemals kommen könnte.
Wie vielschichtig und verzehrend diese Stadt ist, das fasst Brennan bereits im Vorwort dieser Zusammenstellung zusammen: »Selbst nach mehr als fünfundzwanzig Jahren hält sich die langatmige Lady noch immer nicht für eine »echte« New Yorkerin.« Ob das irgendwer irgendwann überhaupt sein kann?

So viele Gesichter. New York von oben, ca. 1960.

Maeve Brennan: »New York, New York«. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag: Göttingen 2012.

Olga Grjasnowa veröffentlichte im Februar 2012 ihren Debütroman »Der Russe ist einer, der Birken liebt«, der sogleich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 gewählt wurde. Der Roman erzählt von Mascha, einer jüdischen Aserbaidschanerin, die von Deutschland nach Israel reist. Es ist die »Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.«

Die Autorin im Interview auf der Frankfurter Buchmesse über Anton Tschechow, das Paris der 20er Jahre und einen Studienabschluss, der auf dem Arbeitsmarkt nichts wert ist. Weiterlesen

Klaus Kordon (Foto: Wikipedia)

Klaus Kordons Roman »Das Karussell« ist nach einem einfachen Kinderspielzeug benannt. Aber halt. Ist es das wirklich? Ein einfaches Kinderspielzeug? Steht ein »Karussell« nicht für viel mehr? Ist es nicht eher ein Gegenstand, der uns an die Unbeschwertheit, an die Leichtigkeit der Kindheit zurückdenken lässt? Für Kordon hat mit diesem Karussell angefangen, wovon er in seinem neuen Roman (nach »Das Krokodil« und »Auf der Sonnenseite« sein dritter autobiographischer Roman) schreibt. Als Kind fand er es beim Stöbern in einer alten, verschlossenen Kommode:

[…] zwischen allerlei Krimskrams wie alten Papiertüten, Watteresten und Kerzenstummeln stand ein kleines, bunt angemaltes, blechernes Karussell. Es war sehr verstaubt und an manchen Stellen war bereits der Lack abgeplatzt.

Verständlicherweise wundert es ihn, zwischen all dem anderen Gerümpel ein Kinderspielzeug zu finden, das er nie zuvor gesehen hat. Seine Mutter sagt ihm schließlich, dass das Karussell seinem Vater, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war und an der Ostfront verschollen ist, gehört hat. Sie verspricht ihm alles zu erzählen, was sie vom Vater weiß – und Kordon erzählt es uns. »Das Karussell« ist die Geschichte von seinen Eltern, von Herbert Lenz und Lisa Gerber.

Zunächst sind es aber zwei Geschichten: Da ist die Geschichte von Herbert, genannt Bertie, der in einem Berliner  Waisenhaus lebt und zwar eine Mutter hat, aber ohne sie aufwachsen muss. Alles was ihm von ihr bleibt sind mal mehr, mal weniger regelmäßige Besuche im Waisenhaus. Ihn quält in seiner Kindheit vor allem die Frage, warum seine Mutter ihn abgegeben hat und – besonders nachdem sie geheiratet hat, schließlich sogar ein zweites Kind bekommt – nicht zu sich nimmt. Erst Jahre später, Bertie ist inzwischen erwachsen, wird ihm klar, was er schon als Kind geahnt hat:

Er wich zurück. Der Blick, mit dem sie ihn ansah! Ein Blick, der sie endgültig verriet. Sie warf ihm vor, dass es ihn gab! Er, ihr Sohn, hatte sie ins Unglück gestürzt.

Von diesem Augenblick an, ist seine Mutter für ihn nicht mehr existent – späte Annäherungsversuche ihrerseits weist er zurück.

Und da ist die Geschichte von Lisa Gerber, die zusammen mit drei jüngeren Geschwistern eine geborgene Kindheit im Harz erlebt bis der Vater im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt. Lotte Gerber, die Mutter, erinnert sich an die Worte des Vaters (»Bier geht immer«) als sie beschließt, einen Neuanfang zu wagen: Ihr Weg führt sie und ihre Kinder von Thale über Zerbst, wo sie drei Jahre lang erfolgreich eine Gastwirtschaft führt, nach Berlin. Hier werden die beiden Erzählstränge miteinander verknüpft, denn Lisa, mittlerweile Anfang 30 und selbst Wirtin in einem Lokal im Prenzlauer Berg, lernt den Maurergesellen Bertie kennen, der bei ihr sein Feierabendbier trinkt. Sie verlieben sich ineinander, doch ihr Glück währt nicht lange, der Zweite Weltkrieg hat bereits begonnen.

In einem Fernseh-Interview erzählt Klaus Kordon, dass er erst recherchieren musste, um diesen Roman zu schreiben. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass er darin die eigene Familiengeschichte erzählt, aber verständlich, wenn man diese Geschichte dann kennt. So hat er in der Charité die Geburtsurkunde des Vaters gefunden, der 1908 von einem 16 Jahre alten, ledigen Dienstmädchen zur Welt gebracht worden ist. Und in der Deutschen Dienststelle die Karteikarte, die Auskunft über den Wehrmachtssoldat Herbert Kordon (im Roman »Lenz«) gibt, etwa welche Feldpostnummer er hatte, in welchem Zeitraum er im Lazarett oder auf Fronturlaub war. Nur wie und wo sein Vater gestorben ist, das hat er auch hier nicht erfahren.

Im Interview verrät er einen weiteren Grund, warum sein Roman »Das Karussell« heißt: Ein Karussell drehe sich im Kreis, so Kordon, alles wiederhole sich und auch in seiner Familie haben sich viele Schicksale wiederholt: So habe sich seine Mutter beispielsweise gefragt, ob – nachdem ihr Vater und ihr Mann im Krieg gefallen sind – auch ihre Söhne einem Krieg zum Opfer fallen würden. Und nicht nur Kordons Vater hat viele Jahre im Waisenhaus verbracht, auch Kordon selbst lebte nach dem frühen Tod der Mutter fünf Jahre erst in einem Kinder-, später dann Jugendheim. Sogar seine eigenen Kinder mussten 1972 nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR zwei Jahre in einem Heim leben, bevor sie zu den Eltern, die vom Westen freigekauft worden waren, zurückkehren durften.

Dass sein Vater so viel Unrecht und soviel Pech in seinem Leben gehabt hat, habe ihn schon als Kind beschäftigt. Mit diesem Roman sagt er, habe er ihm vielleicht ein Denkmal setzen wollen, wollte, dass seine Geschichte nicht vergessen wird. Es ist ihm gelungen.

Klaus Kordon: Das Karussell. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012.

Klaus Kordon im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg

Andreas Stichmann

Andreas Stichmann veröffentlichte im September 2012 seinen Debütroman „Das große Leuchten“, aus dem er beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2012 ein Kapitel las. Der Roman erzählt von Rupert, der sich mit seinem Freund Robert auf einem irrwitzigen Roadtrip durch den Iran befindet, um seine verschwundene Freundin Ana zu finden. „Das große Leuchten“ ist eine rasante Erzählung und der beste Debütroman des Jahres. 

Der Autor im Interview über Derwische, die Eleganz von Kurzgeschichten und das Schlachten von Hühnern.

Lieber Andreas Stichmann, was ist der Reiz des Reisens?

Man sammelt extrem viele Eindrücke und kommt aus seiner eigenen Welt heraus. Aber auch für den Schreibprozess ist das Reisen wichtig: Wenn man schon Figuren entwickelt hat, die man dann auf die Reise schickt, ist das oftmals sehr spannend. Von beiden Reisen kommt man mit einem weiteren Horizont zurück, als man losgefahren ist.

In Ihrem Debüt-Roman »Das große Leuchten« befinden sich Rupert und Robert, die Protagonisten der Erzählung, auf einer großen Reise durch ein für sie unbekanntes Land. Sie sind auf einer abenteuerlichen Suche. Kann der Mensch nur in der Fremde zu sich selbst finden?

Das ist zumindest das alte Morgenlandfahrt-Klischee, Reisen als Selbsterfahrung, das wohl in jeder Reisegeschichte mitläuft und hier ein bisschen gebrochen wird. Wenn man sich in unbekannten Situationen ganz neu verhalten muss, ist es natürlich schon so, dass man auch innerlich in Bewegung ist. Man erfährt sicherlich eher Neues von sich, wenn man mit einem bewaffneten Derwisch in der Wüste streitet, als wenn man alleine zuhause in der Küche sitzt. Gleichzeitig kam man sich aber nicht in die Wüste stellen und hoffen, dass jetzt etwas Erstaunliches passiert. Man kann auch eine Weltreise machen und immer der gleiche bleiben.

Sie selbst haben den Iran für einige Monate bereist. Hat es dort für Sie geleuchtet? Was ist »Das große Leuchten«?

In meinem Buch bezieht sich das Leuchten auf den Protagonisten Rupert, der sich als Kind im »Nicht-Blinzeln« übt. Er hält es bis zu zwei Minuten durch, die Dinge um ihn herum verschwimmen und beginnen zu leuchten, und dann meint er, hinter dem Leuchten die wahre Welt erkennen zu können, ein Muster hinter den Dingen zu erahnen. Das ist sein Ehrgeiz. Er will das große Leuchten hinter sich lassen. Irgendwie ist er aber auch selber ein Blender.

Sie haben mit »Jackie in Silber« im Jahre 2008 einen gefeierten Kurzgeschichten-Band veröffentlicht. »Das große Leuchten« ist Ihr erster Roman. Was war anders bei der Konzeption eines rund 200-Seiten umfassenden Romans im Vergleich zum Schreiben einer Kurzgeschichte?

Alles. Bei den Kurzgeschichten hatte ich immer den Fokus darauf, auf keinen Fall zu viel zu erzählen. Beim Roman kommt man nicht allzu weit, wenn man nur ganz knapp erzählt. Man muss sich etwas mehr gehen lassen können, das fällt mir nicht leicht, ich gerate ungern in die Gefahr, redselig zu werden.
Auch die Entwicklung der Figuren kann man nicht so präzise und knapp anlegen. Es dreht sich beim Roman nicht nur darum, mit ein paar Sätzen besonders viel über eine Person zu sagen, sondern auch darum, ihnen eine längere, kontinuierliche Entwicklung zu geben. Es muss dementsprechend alles viel langfristiger vorbereitet werden.

Das Ende von »Das große Leuchten« ist ungewöhnlich. Es ist offen und spielt mit Implikationen. Ist es Ihr liebstes Ende, oder würden Sie es mittlerweile gegen ein anderes eintauschen?

Ich hatte unterschiedliche Enden im Kopf, inzwischen erscheint mir das jetzige aber als das einzig mögliche. Es ist ja mehr so ein Dreh-und Angelpunkt als eine Endstation. Von dort aus wird die Geschichte im besten Fall vielleicht nochmal unterschiedlich beleuchtet.
Außerdem wollte ich unbedingt, dass Rupert an irgendeiner Stelle des Romans Hühner schlachtet – am Ende ist es jetzt also soweit. Er steigert sich richtiggehend in eine Hühnerschlacht-Meditation hinein.

Was kann die Kurzgeschichte, was der Roman nicht kann?

Kurzgeschichten können perfekter sein als Romane. Zum Beispiel »Jesus‘ son« von Denis Johnson ist so ein Beispiel. Da sitzt jedes Wort wie bei einem Gedicht. Bei einem Roman kann das zwar auch der Fall sein, aber bei vielen guten, dicken Romanen ist es dennoch so, dass man nicht unbedingt das Gefühl hat, dass jedes Wort ganz exakt so sitzen muss, damit die Geschichte funktioniert.
Kurzgeschichten können leichter und eleganter sein, weil sie mit weniger Strichen hingezeichnet werden.

Ihre Kurzgeschichte »Warum schon wieder zu Watan?« erzählt die Geschichte eines traumatisierten Iraners, der in Deutschland Drogen verkauft. Seine Kunden interessieren sich nicht für seine Geschichte, die er ihnen immer wieder erzählt. Erleben Sie Ihre Generation als stumpf, hedonistisch, egomanisch?

Nein, als Aussage ist mir das zu grob, ich kann das nicht pauschalisieren, man redet dann ja gleich über Massen von Menschen. Diese jungen Menschen hier sind ja auch zurecht genervt von der Geschichte des Iraners, denn sie haben sie schon tausendmal gehört. Das ist es ja grade, dass es ihnen grundsätzlich schon irgendwie nahe geht oder ging, und dass sie aber auch genervt sind, weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.

In Ihren Geschichten liegen Tragik und Komik nah beieinander.

Durch Komik lassen sich viele Dinge leichter erzählen und ertragen. Für mich gehören aber auch Ironie und Romantik dazu, dass sind auch so Gegensätze, die für meine Begriffe gut zusammenwirken und die Dinge zusammen dreidimensionaler machen. Wenn eine Geschichte ganz eindimensional erzählt wird, berührt sie mich nicht. Dann ist sie nicht lebendig, dann ist immer schon von vornerein klar, wie das Ganze zu bewerten ist. Außerdem habe ich auch beim Lesen und Schreiben gerne mal etwas Spaß.

Welches Land werden Sie als nächstes bereisen?

Deutschland.

Andreas Stichmann wurde 1983 in Bonn geboren. „Das große Leuchten“ ist sein erster Roman. Im Jahre 2008 veröffentlichte Stichmann den gefeierten Kurzgeschichtenband „Jackie in Silber“, der elf Erzählungen bündelt. Die Kurzgeschichte „Warum schon wieder zu Watan“ kann man auf der Homepage des Schriftstellers herunterladen.