Alles beginnt mit einem Apfelbaum. Genauer gesagt mit dem Apfelbaum von Herrn Schnippel. Weil sein Apfelbaum in diesem Jahr sehr viele Äpfel trägt, beschließt Herr Schnippel, sie zu verschenken. Er legt die schönsten Äpfel in einen Korb, klebt einen Zettel mit der Aufschrift »Zum Mitnehmen« daran und stellt den Korb vor seinen Gartenzaun. Das ist gewissermaßen die Initialzündung für eine Kettenreaktion von Ereignissen. Der Schweizer Bilderbuchautor Lorenz Pauli hat mit »Zum Mitnehmen« eine amüsante Verwechslungsgeschichte geschrieben, die von Miriam Zedelius farbenfrohen Illustrationen begleitet wird. Weiterlesen

Als Thienemann-Verleger Klaus Willberg vor einer Woche bekanntgab, Otfried Preußlers Kinderbuchklassiker »Die kleine Hexe« für die kolorierte Neuausgabe, die im Juli diesen Jahres erscheinen soll, sprachlich überarbeiten zu wollen, war der öffentliche Protest groß. Willberg spricht von einem »shitsorm«, der über ihn hereingebrochen ist[1].

Ehrenwert ist mit Sicherheit, dass der Thienemann-Verlag sich verantwortlich für seine Texte fühlt und durch die sprachlichen Anpassungen verhindern möchte, dass es zu Missverständnissen kommt. Schade ist, dass der Verlag seinen Lesern den Umgang mit dem Original offenbar nicht mehr zutraut. Weiterlesen

Dorothee Coppe ist eine erfolgreiche Künstlerin, aber der Erfolg macht ihr Leben weder einfacher noch besser. Ein kleines Mädchen entkommt seinen Verfolgern, findet Unterschlupf bei einem Kriegsveteran namens Gunter und wird schließlich selbst zur Polizei. Adrians erste und einzige Liebe ist die quantenmechanische Wellenfunktion. Die Medienbranche ist vollends auf den Hund gekommen. Josef Stasi hat Eheprobleme, seine Frau hat darunter besonders zu leiden. Ein Aktivist verwandelt sich als letzte Form des Protests in eine lebende Fackel, »weil die Leute sich unter Unglück mehr vorstellen können als unter Unrecht«. Derweil lauert am Horizont eine Katastrophe mit dem merkwürdigen Namen Kammonikutain. Und im Jahr Zweitausenddreißig sind Identitäten nur mehr elektronisch gespeicherte Datensätze und fassen einander trotzdem an der Hand. Weiterlesen

Der Streit um Suhrkamp und die dazugehörige mediale Berichterstattung haben bei aller Tragik um das mögliche Ende eines traditionsreichen Verlagshauses unbestreitbar einen gewissen Unterhaltungswert. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Feuilletonschreiberling sich mal mitleidig, mal hämisch zum Thema auslässt. Doch die wirklichen Höhepunkte werden von Autorenseite gesetzt. Schon jetzt muss man Hans Barlach dankbar sein, dass er Peter Handke zu einer Anklageschrift von solchem Furor, aber auch von solch sprachlicher Schönheit animierte. Und im Interview mit der SZ ließ sich jetzt Rainald Goetz zu einem Porträt des Investors hinreißen, das zwar wenig schmeichelhaft, dafür aber umso aufschlussreicher ist:

Es gibt nur schlimme Geschichten über ihn, und wenn man ihn sieht, glaubt man sie alle. Die blaue Blumenhändler-Rolex, das schütter gewellte, mittelbraun getönte Haar, die dicke, glasig gespannte Sonnenstudiohaut im Gesicht. Ich habe ihn in einer Prozesspause angesprochen, was er seine Anwälte da für einen wahrheitswidrigen Unsinn erzählen lässt. Da reagiert er wie ein stumpfer Automat, redet sofort von seinen Rechten, die er ja nur in Anspruch nimmt. Er ist auch noch ein Wimp, nicht nur ein Rechtsquerulant, ein Feigling, ein unsicherer Mensch.

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Letzte Chance: Unser munteres Gewinnspiel verabschiedet sich pünktlich zum Fest, jedoch nicht ohne ein würdiges Stoßgebet. Und das führt kopfüber in die Hölle. Donald Ray Pollocks nervöser Debütroman ist der finsterste Wahnsinn zwischen zwei Buchdeckeln, den wir in diesem Jahr zu lesen bekamen. Seit der Lektüre dieses verstörenden und meisterhaften Roman noir haben wir kein Tageslicht mehr gesehen. Wir trauen uns einfach nicht mehr raus, in eine Welt des Mordes, der Gier, des Hasses und der Niedertracht. Ein Buch, »so blutig wie das Alte Testament«. Weiterlesen

Wer ist Richard Yates? Richard Yates ist einer dieser Autoren, bei denen jeder Literaturwissenschaftler immer sofort verständig mit dem Kopf nickt – von dem trotzdem alle nur ein Werk kennen. In diesem Fall »Zeiten des Aufruhrs«, Yates‘ ersten Roman von 1961. Danach war es still geworden um ihn und als er 1992 starb, fanden sich nur noch wenige Geschichten von ihm in den Buchhandlungen. Erst vor einigen Jahren fand Richard Yates einen Weg zurück in die Herzen der Menschen und sogar bis nach Deutschland: Seit 2002 erscheinen seine Romane und Kurzgeschichten bei der Deutschen Verlags-Anstalt. Weiterlesen

Unser Adventsgewinnspiel geht in die dritte und damit vorletzte Runde. Da wird es langsam Zeit, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu befassen. Und welches Thema wäre dringlicher als der Niedergang des Kapitalismus, wie wir ihn kannten? Lange haben wir auf den Roman zur Wirtschaftskrise warten müssen, bis uns dann ein alter Bekannter endlich erlöste. Wer hätte das außer uns schon gedacht: Rainald Goetz schreibt mit »Johann Holtrop« einen ebenso unterhaltsamen wie scharfsinnigen Roman über die charakterliche Verkommenheit der Wirtschaftselite und die Ohnmacht einer ganzen Gesellschaft. Und tritt nebenbei erneut den Beweis an, dass Literatur als Instrument der Gegenwartserkenntnis noch nicht ausgedient hat. Fürwahr ein furioser »Abriss der Gesellschaft«! Weiterlesen

Das sollte es zumindest, damit am Samstag das Sams kommt. Der Schöpfer dieses rothaarigen Wesens mit blauen Punkten im Gesicht und »prallrundem Trommelbauch«, das immer einen vorlauten Spruch auf den Lippen hat, ist Paul Maar. Heute ist sein 75. Geburtstag. Wir gratulieren und nehmen dieses Jubiläum als Anlass, einen Blick auf Maars Biographie zu werfen.

Paul Maar wurde am 13. Dezember 1937 in Schweinfurt geboren. Nachdem seine Mutter früh gestorben war und sein Vater wieder geheiratet hatte, wuchs er weitgehend bei seinen neuen Großeltern in Theres, einem kleinen Dorf in der Nähe von Schweinfurt, auf. Er selbst sagt über seine Kindheit, dass sie nicht besonders glücklich war, vor allem das Verhältnis zum seinem Vater sei schwierig gewesen:

Ich hatte keine sonnige Bullerbü-Kindheit, eher deren krasses Gegenteil. Zuweilen kommt mir sowieso der Verdacht, daß meine Kolleginnen und Kollegen, die sich ganz dem Schreiben von Kinderbüchern verschrieben haben, eine von der allgemeinen Norm abweichende Kindheit hatten, extremer als andere Kinder: glücklicher oder zerstörter.

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Zuhause ist es immer noch am schrecklichsten. Da geht man über die Straße und wird gegrüßt von einem, den man doch eigentlich gar nicht mehr kennen will. Der Nachbar wünscht einen guten Tag, doch weiß man: gerade eben hat er hinter verschlossener Tür seine Frau angeschrien. Und am schlimmsten: die eigenen Geheimnisse stehen für alle sichtbar auf der gerunzelten Stirn geschrieben.

Sherwood Anderson hat über die kleinen privaten Geheimnisse, Schrecklichkeiten, Abgründe ein Buch geschrieben, das vielleicht schönste Buch, das während des ersten Weltkriegs verfasst wurde. »Winesburg, Ohio« heißt dieses Portrait einer Kleinstadt im nördlichen Nirgendwo Amerikas und dort, in diesem fiktiven Ort, spielt sich auch das Geschehen ab: Junge Männer hadern mit ihrer Zukunft, die Alten versinken in Depressionen, die Frauen sind vergrämt und ein quirliger Reporter der Lokalzeitung »Winesburg Eagle« bringt sie alle zusammen. Mit dem Progressivismus und kurz vor dem Beginn der Industrialisierung verlieren die Menschen die Nerven und den Sinn für die Traditionen des Landlebens. Die Stadt lockt mit Versprechungen, doch wer wagt schon den ersten Schritt ins Neue? Weiterlesen

Zumindest wenn es nach Mila gehen würde, der neunjährigen Protagonistin in Pernilla Oljelunds Roman »Elfrid & Mila. Das Weihnachtswichtelwunder«. Ein altes Problem ist es, dass die Autorin in ihrem Roman verhandelt. Mila lebt zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter Katerina und dem Meerschweinchen Otto in einem Reihenhaus. Sie kennt es nicht anderes, für sie ist alles gut so wie es ist – bis er kommt. Klas. Der neue Nachbar. Mila schwant Übles. Sie befürchtet, dass »Klas, das Aas« mit ihnen zusammen unterm Tannenbaum sitzen wird. Deshalb steht ihr Wunsch an den Weihnachtsmann fest: Sie wünscht sich ein richtiges Weihnachten – eins ohne Klas, nur mit ihrer Mama, so wie all die Jahre zuvor. Weiterlesen

Nachdem wir in am vergangenen Sonntag mit einem Aufreger eröffnet haben, fallen wir nun für einen Moment der Stille anheim. Deren kleiner Bruder ist bekanntlich die Melancholie, die wiederum der Schönheit nicht unverwandt ist. So gesehen kann man »Ich nannte ihn Krawatte« passend zum anstehenden Weihnachtsfest fast schon als Familienroman lesen. In bestechender Klarheit erzählt Milena Michiko Flašar darin die eindringliche Geschichte zweier Außenseiter, die ihren Weg zurück in die Gesellschaft antreten. Nur einer wird ihn vollenden. Wir zünden die zweite Kerze an und versinken andächtig im Fauteuil. Weiterlesen

Zu den einfachsten Grundübungen liberaler Sophistik gehört das Herausstellen der tatsächlichen oder vermeintlichen Ähnlichkeiten zwischen faschistischen und sozialistischen, respektive »rechten« und »linken« Systemen. Denn die Fakten liegen ja scheinbar auf der Hand. Haben Stalin und Mao nicht weit mehr Menschen auf dem Gewissen als Hitler und Mussolini? Und ist der Nationalsozialismus nicht in erster Linie ein national verbrämter, mit Antisemitismus und Rassenwahn angereicherter Sozialismus? Wer so »argumentiert«, kann sich in Deutschland, wo der Antikommunismus von jeher zum guten Ton gehört, des Beifalls sicher sein. Für Fortgeschrittene empfiehlt es sich indes, dem Ressentiment einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen. Ein ganzer Zweig der politischen Theorie lebt davon, ausgehend von Hannah Arendt auf die strukturelle Homologie zwischen den beiden politischen Extremen hinzuweisen. Das Zauberwort dafür heißt »Totalitarismus«, und der ist, das weiß heute jedes Kind, böse. Womit wir das Feld der politischen Auseinandersetzung verlassen haben und uns nunmehr im Sumpf der Moral befinden. Die Chancen, da wieder herauszukommen, stehen schlecht. Weiterlesen