Die Kurzgeschichte hat es nicht leicht in Deutschland. Vergangen sind die Tage der Gruppe 47, vorbei die Ära von E.T.A. Hoffmann bis Heinrich Böll. Vereinzelt schaffen es noch Bände mit Erzählungen in die öffentliche Aufmerksamkeit, beispielsweise »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« von Clemens J. Setz im Jahr 2011, aber ansonsten steht die traurige Tatsache seit einiger Zeit fest: Die Kurzgeschichte ist – neben der Lyrik – das schwierigste Terrain im deutschen Buchmarkt, vor allem für junge, unbekanntere Autoren.

Dass das Format – auch in Deutschland – einiges an Potential birgt, beweisen immer wieder die Publikationen junger Autoren, die bei kleineren, unabhängigen Verlagen erscheinen, zuletzt »Oberhorror«, ein Kurzgeschichtenband von einem Verlagshaus, das auf den melodischen Namen Chaotic Revelry Verlag hört. »Sind wir nicht alle irgendwie Horror« fragt das Buch auf der ersten Seite, die folgenden Geschichten bieten Aufschluss. Von traumatisierten Kindern, die zu Mördern werden, kann man lesen; von Animations-Filmen, die Wahnsinn verursachen und von japanischen Schneegöttinnen. Man schweift durch die Katakomben der »Blutsuppenstadt« und liest die Aufzeichnungen eines Arztes, der sich im Kampf mit einem furchtbaren Virus befindet. Dabei sind der Fantasie wirklich keine Grenzen gesetzt, Bücher, die zum Leben erwachen und ihren Leser unter sich begraben sind ebenso an der Tagesordnung, wie Ausflüge nach R’lyeh, der Alptraumstadt der alten Götter, die unter anderem Cthulhu beherbergt. Nun könnte der Rezensent in stundenlangem Monolog jede einzelne Geschichte in Hinsicht auf Inhalt und Sprache zerpflücken, doch damit wäre im Grunde niemandem geholfen. Stattdessen werden nun exemplarisch drei Geschichten vorgestellt, wobei dies keinerlei qualitative Hervorhebung sein soll. Denn lesenswert sind in der Tat alle.

Sarah Krennbauer: »Egotomi«

In »Egotomi« entfesselt Sarah Krennbauer eine Dystopie erster Klasse: In den letzten Jahrzehnten hat die Menschheit gewaltige Fortschritte in der Nanobiologie und der Symbiotik gemacht und somit wurde das Herstellen von Androiden – sogenannten Egotomi – möglich. Wie es zu erwarten war, erzeugt diese Errungenschaft auch Probleme und diese sind es, denen sich die Kurzgeschichte in erster Linie widmet. Angefangen bei der Herstellung, die natürlich sofort in die Hände des kapitalistischen Konsumprinzips spielt, über die „Endlagerung“ veralteter Egotomi bis hin zu der einfachen Frage, ob künstliches Leben nicht auch Leben ist, das es zu erhalten gilt, all das wird aus der Sicht einer rotznäsigen Tochter eines reichen Industriellen geschildert, sodass am Ende eine Zukunftsprognose steht, die jetzt schon als wahr erachtet werden kann: Egal, was der Mensch an technischen Fortschritten macht, zufriedener wird er dadurch nicht.

Bernado Bollen: »SS#X4«

Nur 26 Zeilen ist sie lang, Bernado Bollens (hoffentlich ein Künstlername) Kürzestgeschichte mit dem rätselhaften Namen. Dennoch ist sie eine der unterhaltsamsten im Buch, denn der sechsjährige Ben erzählt von seinem Besuch beim Teufel. Das war anscheinend ein ganz schöner Spaß, auch wenn die Treppe ihm anfangs etwas Mühe machte (die Stufen waren schräg und scharf). Aber als er dann oben war, war es schön, der Teufel hatte einen Butler, der verbrannt war und ist lustig auf seinen Hufen herumgelaufen. Die Brillanz der kurzen Erzählung liegt in der Idee, alles aus den Augen eines Kindes zu sehen, das vor lauter Neugier noch gar keine Angst kennt. Der kleine Ben ist vom Teufel viel mehr fasziniert als verstört und vielleicht will dieser auch deshalb nichts Böses. Aber irgendwann wird Ben müde und der Teufel bringt ihn zur Tür. Zum Abschied gibt es noch einen Kuss auf die Stirn und ein Foto von Ben, seinem Teddy und dem Teufel. Der Rezensent musste daraufhin aus dem Bus aussteigen, da sein Lachen die anderen Fahrgäste zu beängstigen schien.

Amos Borchert: »Evisceratio Mundi«

Zu Deutsch etwa mit »Das Ausweiden der Welt« betitelt, dreht sich die Kurzgeschichte von Amos Borchert um einen Krieger, der seine blutige Ernte einfährt. Mit einer bildgewaltigen Sprache, die an den frühen Edgar Allen Poe oder die deutschen Expressionisten erinnert, zeichnet Borchert eine bizarre, alptraumhafte Umgebung voller Blut, Fleisch und Knochen. »Menschliches Magma« setzt knisternd zur Gerinnung an, »Die Sonne liegt seitwärts im knöcherigen Haupt von Kronen«. Bei solchen Bildern tun sich Abgründe auf, in Dimensionen von Gemälden des niederländischen Malers Hieronymus Bosch, gepaart mit japanischen Splatter-Filmen. Dabei bleibt der Leser die ganze Zeit im Unklaren, ob die Handlung real ist, oder nur Parabel auf die menschliche Psyche. »Evisceratio Mundi« steht ganz am Ende von »Oberhorror«, und es ist zweifellos der Gipfel des blanken Horrors, in seiner farbenprächtigen, Wahnsinn verursachenden Blüte.

 

»Oberhorror«. Swisttal: Chaotic Revelry Verlag, 2013.

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