Denis Scheck ist Literaturkritiker, Übersetzer, Herausgeber und Journalist. Bekannt wurde der Schwabe als Moderator des Büchermagazins »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird. Im vergangen Jahr wurde die Sendung mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

Der Literaturkritiker im Interview über Altersrassismus im Kulturbetrieb, Charlotte Roche und die Vielfalt der US-amerikanischen Literatur.

 

Lieber Denis Scheck, kann man über Literatur auch im Jogginganzug urteilen?

Gewiss. Aber wie in der Literatur ist auch in der Gesellschaft Formlosigkeit nicht immer von Vorteil.

Welchen Anzug würden Sie bei einer Begegnung mit Thomas Pynchon tragen?

Wenn ich es recht weiß, hatte ich einen ganz normalen schwarzen an.

John Updike, J.D. Sallinger, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle – die Liste der von Ihnen geschätzten amerikanischen Romanautoren ist lang. Was ist das Besondere der zeitgenössischen amerikanischen Literatur?

Mit Sonnenbrille: Scheck trifft Boyle (Foto: ARD)

Sie haben meinen besonderen Liebling William Gaddis vergessen. Und Joan Didion, James Tiptree, Paul Auster, Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Toni Morrison, Kurt Vonnegut, Nichsolson Baker, Robert Stone, Siri Hustvedt, Padgett Powell und Jack Vance. Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen und Padgett Powell. Damit wird ja schon deutlich: die besondere Qualität der US-amerikanischen Literatur ist ihre Vielfalt. Außerdem fürchte ich, daß es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen militärisch-ökonomischer Macht und künstlerischen Blütezeiten gibt. Ohne Augustus kein Ovid.

T.C. Boyle schrieb einmal: »Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst Du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern Dir Bierdosen an den Kopf.« Zu welchen aktuellen deutschsprachigen Romanen tanzen Sie?

Hier irrt Boyle. Romane sind Romane, Rockkonzerte sind Rockkonzerte. Aber die Verwechslung zwischen beiden ist ein zeittypisches Phänomen, das insbesondere auf Erfolg bedachten Rampensäuen schon mal häufiger unterläuft. Literatur entsteht nur in der Interaktion zwischen Leser und Text, alles andere ist – sorry T.C. –  Event und Performance. Macht auch Spaß, ist aber was anderes. Doch wie schreibt Flaubert in Madame Bovary so schön: »Des Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.«
Im Moment wippt mein Tanzbein ganz leicht bei Christian Krachts »Imperium« und bei Christopher Eckers »Fahlmann«.

Mit dem Zweiten sieht man besser. (Foto: Boris Schöppner)

Junge deutschsprachige Autoren wie Leif Randt, Jan Brandt, Antonia Baum oder Rafael Horzon finden in Ihrer Sendung »Druckfrisch« leider kaum statt. Warum?

Der insbesondere im deutschen Kulturbetrieb besonders verbreitete Altersrassismus und der für die Kritik typische Entjungferungswahn protegiert Debütanten ohnehin schon stark. Aber Franziska Gerstenberg, Mariam Kühsel-Hossaini und Abbas Khider waren ja zum Beispiel auch nicht alt oder etabliert, als sie in der Sendung vorkamen. Die Erfahrung lehrt, daß die besten Bücher selten von den jüngsten Autoren geschrieben werden – und daß man selbst schon renommierte Autoren wie Antje Ravic Strubel, Sibylle Lewitscharoff oder Feridun Zaimoglu einem größeren Fernsehpublikum erst bekannt machen muß. Zudem ist Interviewtwerden genau wie Schreiben etwas, das man lernen muß.

Ihr Interview mit Michel Houellebecq zu dessen Roman »Karte und Gebiet« ist sehr intensiv und auch skurril. Das Gespräch wirkt seltsam entrückt, geradezu gespenstisch. Kann man so etwas planen?

Ja.

Welches Interviewerlebnis war das für Sie außergewöhnlichste?

Ein Interview mit Ray Bradbury, bei dem nicht alle Gesprächsteilnehmer Beinkleider trugen.

In einem Interview sagten Sie einmal, dass Sie zwischen 150 und 180 Bücher pro Jahr lesen. Das sind etwa drei Bücher pro Woche. Wie halten Sie das Tempo?

Was wäre denn die Alternative? Golf spielen?

Ihr Kollege Hellmuth Karasek sammelt Lexika. Sammeln auch Sie ausgefallene Bücher?

Als Kind und Jugendlicher habe ich sehr passioniert Science Fiction und Fantasy gesammelt: »Ace Doubles«, »Galaxy«, »Astounding Stories« und so was, auch alte amerikanische Pulp-Magazine oder der fast zeitgleich mit »Weird Tales« oder »Amazing Stories« erschienene deutsche »Orchideengarten«. Aber in den Häusern von Fischern stößt man selten auf Aquarien.

Auf dem Rad: Scheck trifft Kracht (Foto: ARD)

Was haben Sie von Fritz J. Raddatz gelernt?

Daß man im literarischen Leben keine Dankbarkeit erwarten sollte.

Und von Marcel Reich-Ranicki?

Daß ein Bad in Drachenblut von Vorteil ist.

Beide Literaturkritiker, Raddatz wie auch Reich-Ranicki, schreiben in ihren Autobiografien ausführlich über öffentliche Auseinandersetzungen wie auch Freundschaften mit berühmten Schriftstellern wie etwa Günter Grass oder Martin Walser. Werden Sie in Ihrer Autobiografie auch aus dem Nähkästchen plaudern?

Ich will hoffen, daß mir unverschämt hohe Schweigegeldzahlungen das Maul stopfen.

Wären Sie selbst gerne Romanautor?

Solange darunter sowohl Nabokov wie Charlotte Roche und Susanne Fröhlich fallen, wüßte ich meinen Wunsch bei einer plötzlich auftauchenden guten Fee anders zu stellen.

Denis Scheck wurde 1964 im schwäbischen Bretzenacker geboren. Er ist Literaturkritiker und Journalist. Seit Februar 2003 moderiert er das Büchermagazin »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird.

 

 

Markus Berges
(Foto: Matthias Sandmann)

Markus Berges ist Texter und Sänger der Band Erdmöbel, über die die Süddeutsche Zeitung schrieb, sie sei „die größte deutsche Band unserer Tage.“
Doch ist der Kölner nicht nur ein begabter Song-Texter, auch als Roman-Autor beweist er sein poetisches Geschick.
Bereits im September 2010 veröffentlichte Berges den von der Kritik geschätzten Roman „Ein langer Brief an September Nowak“.
Leichtfüßig und melancholisch erzählt der Roman von Täuschungen und Träumen, Reisen und der Schönheit des Atlantiks.  

Der Autor im Interview über Johann Lafer, vergammelte Fußballstadien und das Verhältnis zwischen Realität und Illusion.

 

Lieber Markus Berges, fahren Sie gerne Zug?

Ja, wenn ich nicht stehen muss. Aber meistens ist noch Platz im Speisewagen. Wir sind letztens beispielsweise mit Erdmöbel im Zug von München nach Berlin gefahren. Von der Brezel im Bahnhof über Nebelfelder durch finstersten Zonenrandwald, in dem die Sonne aufging, zur lächerlich schlechten Kost von Johann Lafer: yeah!

Die Protagonisten in Ihren Songtexten wie auch in Ihrem Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« fahren häufig Bus, sie fahren häufig Bahn. Meist sind es sehr poetische und melancholische Momente. Worin liegt der Zauber dieser passiven Bewegung?

Da ist was dran. Es wird auch manchmal Auto gefahren, aber dann wird jemand mitgenommen. Das Passive daran ist tatsächlich das Schöne, der Fahrer fährt, weiß den Weg und du darfst schauen, träumen, lesen. In zwei Wochen fliege ich in die Ukraine und fahre mit dem Bus auf die Krim, mal sehen, wie sich das Ausgeliefertsein dort anfühlt.

Ihr Roman ist der Reisebericht von Betti, einer Jugendlichen, die zum ersten Mal das Elternhaus verlässt, um eine Brieffreundin in Südfrankreich zu besuchen. Sie wird getäuscht und enttäuscht. Doch schöpft sie aus ihrer Verzweiflung Mut und Kraft. Wächst der Mensch an Niederlagen?

Das kommt drauf an, denke ich. Die Aufstehfähigkeit verdankt man wohl seinen ersten Lebensjahren. Oder eben nicht. Dann gibt es natürlich auch Niederlagen, von denen man sich nicht mehr erholt.

In Ihrem Roman verschwimmen Bewegung und Stillstand, Illusion und Realität. Betti, die Hauptperson, verewigt ihre Erlebnisse mit einer Lomo-Kamera. Ist Fotografie das Glied zwischen Realität und Illusion?

Bei den Fotos im Roman spielt das Verhältnis von Realität und Illusion eine Rolle. Traditionell galten Fotos als Dokumente. Aber fiktional wie Gemälde wurden sie schon immer allein durch ihre Ausschnitthaftigkeit. Und anders als die unabgebildete Welt, fangen sie sofort an, in Kontexten und in Köpfen Geschichten zu erzählen. Ich habe für den Roman sowohl fotografiert (auch Fotos abfotografiert) als auch ältere, eigene Fotos (z.B. von einem Gemälde, das tatsächlich in der im Roman beschriebenen Bahnhofbar hängt) verwendet. Interessant finde ich, wie sich in Fotos Zeiten überlappen. Aus welchem Foto hat Gursky wohl die
Schwimmerin herausmontiert, die sich in »Monaco 2004/06« findet, dem Foto, das am Ende meines Romans steht? Wann schwimmt sie eigentlich und wo? Hat sie je von Gursky gehört? Wer ist sie? Ist es eine Frau?

»Ein langer Brief an September Nowak« weckt Fernweh. Ich habe den Roman in Italien am Comer See gelesen. Trotz des wunderbaren Lichts, der spektakulären Kulisse, wollte ich mit dem Rucksack schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen. Was ist das Anziehende an Orten, an denen man sich derzeit nicht befindet?

Das weiß ich nicht. Diese Sehnsucht ist ziemlich unbuddhistisch, oder? Ich kenne sie natürlich auch gut. Das Schöne an der Literatur ist vielleicht, dass sie sie gleichzeitig wecken und stillen kann.

Was ist die Chance des Reisens?

Also mir geht es meistens nur um das ganz reale Glück. Manchmal will ich was lernen, meistens aber einfach nur da sein, ich meine, in diesem ganz einfachen Sinne von: hey, dieses vergammelte Fußballstadion gibt es, in diesem abruzzesischen Abendlicht, und ich sehe es, ich bin da.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Sonne in Palermo, Nizza und Köln?

Ja, vielleicht hat es mit irgendwelchen Brechungen zu tun. Jedenfalls kann auch der Kölner Himmel, nach dem ich mich nie sehne, eine einzigartige Durchsichtigkeit haben. Hätten Palermo und Nizza heute morgen in Köln gefrühstückt, hätten sie zukünftig danach Sehnsucht.

Wie Amélie Poulain in »Die fabelhafte Welt der Amélie« staunt auch Betti mit großen Augen über das sie umgebende Treiben der Menschen. Leise und vorsichtig tasten sich beide an ihr Glück heran. Kann man Glück erzwingen?

Es gibt auf der Welt natürlich viel objektives Unglück. Aber schmieden lässt Glück sich doch manchmal. Der glücklichste Tag der letzten Woche war der Tag, an dem ich und meine Familie aus unserem Haus zwangsevakuiert waren, wegen einer Weltkriegsbombe. Aus Gründen hätte man das auch anders erleben können.

Das Buch endet mit einem Zitat aus Vladimir Nabokovs »Das wahre Leben des Sebastian Knight«: »Sie besaß Phantasie – der Muskel der Seele -, und zwar eine besonders kräftige, beinahe männliche Phantasie. […]« Spielt die Wahrhaftigkeit des Erzählers in Ihrem Romanen überhaupt eine Rolle? Ist es wichtig, ob Betti tatsächlich in Südfrankreich war?

Nein, letztlich geht es nur um die Fähigkeit, wie Nabokov sagt, den »Glorienschein um eine Bratpfanne« entdecken zu können. Andererseits bedeutet das Erzählen auch einen Hauch mehr als bloßes Spiel. Deshalb liegt die Wahrhaftigkeit des Erzählers wohl eher in seiner erzählerischen Energie, darin, dass es ihm wirklich um etwas, sei es um sich selbst, geht.

Auf dem aktuellen Album Ihrer Band Erdmöbel, »Krokus«,  befindet sich ein Song namens »Wort ist das falsche Wort«. Sie singen »Wort ist das falsche Wort, es ist mehr Akkord. Ach – ist unsagbar schwer zu sagen.« Sprache ist nur eine Annäherung an die Welt. Ist ein Klang tiefer als Worte?

Klang ist eine andere Sprache, ich kenne mich da nicht aus, aber man spürt ja, dass sie auf andere Areale im Gehirn trifft. Wenn Sprechen nicht mehr geht, geht oft noch Singen. Mich ergreift Musik meist tiefer als ein Text, aber oft hallen Worte länger nach.

Markus Berges  wurde 1966 im münsterländischen Telgte geboren. Sein Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« wurde im September 2010 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

 

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Jan Brandt seinen 900 Seiten umfassenden Debüt-Roman »Gegen die Welt« und wurde damit sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman erzählt von der Bürde der Jugend, er erzählt vom Scheitern und existentieller Langeweile: eine grandiose Kapitulation.

Der Autor im Interview über Hiob, Anakin Skywalker und die Abgründe der Menschheit.

 

Lieber Jan Brandt, was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Ein Roman kann niemals wahr sein, höchstens wahrhaftig oder wahrscheinlich.

Immer wieder tauchen religiöse Motive in Ihrem Roman auf. Obwohl niemals moralisierend, so entsteht doch der Eindruck, dass die religiöse Versiertheit in Jericho stellvertretend für eine Sehnsucht nach allgemeingültigen Werten und Führung steht. Kann Religion diesem Verlangen noch gerecht werden?

Religion stillt die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Jede Religion hat einen Ursprungsmythos, der auch nach Jahrhunderten noch seine Wirkung entfaltet. Diese Texte sind machtvoll, trostspendend und zerstörerisch zugleich. Die Geschichte der Menschheit zeigt, welche Energien solche Fiktionen freisetzen können. Und darum geht es in »Gegen die Welt« mehr als um alles andere: um Geschichten und deren Interpretationen, um die Suche nach einer Wahrheit im Dickicht sich widersprechender Erzählungen.

Ist »Gegen die Welt« ein Roman über das Theodizee-Problem?

Das Theodizee-Problem behandelt die Frage: Wenn Gott gut und allmächtig ist, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Wie kann Gott es zulassen, dass die gläubigen, rechtschaffenden Menschen, die Krone seiner Schöpfung, leiden? Man kann die Geschichte von Daniel Kuper als Parabel lesen, als einen Wiedergänger Hiobs, dem immerzu Böses wiederfährt und der doch nicht seinen Glauben verliert. Aber im Gegensatz zu Hiob verliert Daniel Kuper seinen Glauben, an die Gesellschaft, die Gerechtigkeit, das Glück.

Volker, ein vermeintlicher Nebencharakter, entwickelt schon in seiner frühen Jugend eine außergewöhnliche Faszination für den christlichen Glauben. Er wird später die neutestamentarische Position des Judas einnehmen. Was ist das Faszinierende an den Schattenseiten des Christentums?

Es sind ja nicht die Schattenseiten allein. Die Bibel ist voller Brutalität: Brudermorde, Erdbeben, Feuersbrünste, Sintfluten, Hungersnöte, Kindesschlachtungen, Folter, Hinrichtungen – ein kollektiver Splatterroman. Aber sie ist auch voller Liebe und Mitgefühl, Hilfsbreitschaft und Vergebung. Aus diesem Dualismus entsteht eine ungeheure Kraft. Der Konflikt, der daraus resultiert, ist faszinierend, nicht nur die helle oder dunkle Seite der Macht, die Verwandlung von Judas vom Jünger zum Verräter oder – um einen anderen mächtigen Mythos zu zitieren – von Anakin Skywalker zu Darth Vader.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine große Rolle. Weshalb wird er von den Menschen kaum thematisiert, kaum beachtet?

Das hat mich auch gewundert, kein Kritiker hat sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt. Vielleicht liegt es daran, dass der Tod in der Literatur allgegenwärtig ist, dass viele Romane vom Sterben handeln, vom Untergang eines Menschen, einer Familie, einer Gesellschaft. Und vielleicht zeigt das auch die Grenzen der Fiktion auf: Vielleicht bedarf Fiktion einer Verankerung in der Wirklichkeit, um volle Anerkennung beanspruchen zu können. Hätte ich mich unmittelbar vor oder nach Erscheinen meines Romans umgebracht, hätten sich die Exegeten auf das Selbstmord-Motiv gestürzt und es als Schlüssel für mein Leben und Sterben gedeutet.

Einige der auftretenden Jugendlichen sind besessen von Heavy Metal. Mittlerweile ist diese Musik hauptsächlich in ländlichen Gebieten von großer Bedeutung. Können Bands wie Judas Priest, Iron Maiden und Saxon noch als Vehikel für die Wut und die Angst junger Menschen dienen?

In der Provinz diente Musik immer schon zur Distinktion, stärker als in der Großstadt, das Potenzial mit Aussehen und abseitigem Musikgeschmack Aufmerksamkeit zu erregen, ist dort einfach höher. Mag sein, dass Heavy Metal auch immer ein Ventil war und ist, um Aggression abzulassen. Dann hätte die Musik aber nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, die dazu dient, Widerstand zu kanalisieren und den status quo aufrechtzuhalten. In »Gegen die Welt« ist Heavy Metal eine Art Ersatzreligion, das Gegenstück zum Christentum, dem sich die Jugendlichen aus Protest über die Diktatur der Angepassten verschreiben. Diese Haltung ist in ihrer Ausschließlichkeit auch reaktionär. Ein Teufelskreis.

Roberto Bolaños Roman »2666« thematisiert ebenso die Abgründe der Menschlichkeit, wie eben auch »Gegen die Welt«. Jedoch spielt sich der Roman Bolaños nicht nur in einer Stadt, oder in einem Land ab. Schreckensszenarien findet man in jedem Winkel der Welt. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, »Gegen die Welt« ausschließlich in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands handeln zu lassen?

In meinem Buch heißt es: »Das Dorf war überall.« Die Geschichte Daniel Kupers, die Geschichte vom Verschwinden des Dorfes ist universal und könnte so oder so ähnlich überall auf der Welt spielen, auch wenn die sozialen Umstände dort, wo immer das dann ist, andere sind. »2666« ist dagegen tatsächlich global, von Anfang an Zeit und Welt umspannend, und doch scheinen beide Romane eine gemeinsame Botschaft zu haben: dass es kein Entkommen gibt, dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun. Bei Bolaño allerdings sehr viel tiefere und furchtbarere als bei mir.

Verstehen Sie »Gegen die Welt« als Schlüsselroman?

Nein. Es gibt – abgesehen von einigen Dorfgeschichten, autobiografischen Erlebnissen, zeitgeschichtlichem Material und topografischen Rahmenbedingungen – keinen Bezug zur Wirklichkeit.

Der Film »Das weiße Band« zeichnet eine ebensolche bedrohliche Atmosphäre aus, wie sie auch in Ihrem Roman allgegenwärtig ist. Im Gegensatz zu Ihrem Roman wird im Film allerdings dem Zuschauer am Ende überlassen, das Geschehen moralisch zu werten. Die Kamera harrt am Altar aus, der Pfarrer setzt sich zu seiner Gemeinde auf die Kirchenbank. Warum führen Sie den Leser Ihres Buches nicht ebenso?   

Ich liefere am Ende auch keine Moral, ich knüpfe nicht einmal alle losen Fäden zusammen. Ich habe bewusst Leerstellen gelassen, weil es auch im wirklichen Leben nicht auf alle Fragen Antworten gibt, und man das auch nicht von einem Gesellschaftsroman erwarten kann. Ich mag keine Bücher, die mir die Welt erklären, das ist keine Literatur, sondern Propaganda.

Kann man dem Erzähler Ihres Romans »Gegen die Welt« Glauben schenken? Oder ist auch er so unaufrichtig, so manipulierend wie die meisten der auftretenden Personen?

Er ist so vertrauenswürdig wie jeder andere auch. Glauben Sie mir. Ich kenne ihn besser als er sich selbst.

Die Band Tocotronic singt in ihrem Lied »Kapitulation«: »Alle, die die Liebe suchen, sie müssen kapitulieren.« Dies trifft in besonderem Maße auch auf den Protagonisten Daniel Kuper zu. Kann man dem Scheitern etwas Positives abgewinnen?

Offenbar schon, sonst gäbe es weniger Texte, die genau davon handeln, ob Songs, Gedichte oder Erzählungen und Romane.

Jan Brandt wurde 1974 im ostfriesischen Leer geboren. Sein Debüt-Roman »Gegen die Welt« wurde im August 2011 im Dumont Buchverlag veröffentlicht.