Zumindest wenn es nach Mila gehen würde, der neunjährigen Protagonistin in Pernilla Oljelunds Roman »Elfrid & Mila. Das Weihnachtswichtelwunder«. Ein altes Problem ist es, dass die Autorin in ihrem Roman verhandelt. Mila lebt zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter Katerina und dem Meerschweinchen Otto in einem Reihenhaus. Sie kennt es nicht anderes, für sie ist alles gut so wie es ist – bis er kommt. Klas. Der neue Nachbar. Mila schwant Übles. Sie befürchtet, dass »Klas, das Aas« mit ihnen zusammen unterm Tannenbaum sitzen wird. Deshalb steht ihr Wunsch an den Weihnachtsmann fest: Sie wünscht sich ein richtiges Weihnachten – eins ohne Klas, nur mit ihrer Mama, so wie all die Jahre zuvor. Weiterlesen

Foto: Thienemann Verlag

Jonas und Philip, genannt Nase und Lippe, staunen nicht schlecht, als sie bei einem Streifzug durch die örtliche Kanalisation einen Tiger, garniert mit Essenresten, Klopapier und Ähnlichem, aus dem Abwasser fischen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen gewöhnlichen Tiger, sondern um einen der sprechen kann und von sich behauptet, eine alte Dame aus der Nachbarschaft zu sein:

»Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«

Genauso selbstverständlich wie die Raubkatze dies behauptet, beschließen die beiden elfjährigen Protagonisten in Kilian Leypolds Roman »Der Tiger unter der Stadt«, sich um den Tiger, pardon, um Frau Ohm, zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ausgewachsenen sibirischen Tiger handelt, der der größte seiner Art ist. Ihre anfänglichen Berührungsängste vor dem mächtigen Tier erweisen sich allerdings schnell als unbegründet:

»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger.

»Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.

»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in die Sonne.

Während Tante Tiger – so nennen Philip und Jonas die alte Dame im Tigerkörper – anfangs noch nach altersgerechtem Essen und ihren zahlreichen Medikamenten verlangt, merkt sie nach und nach, dass ihr neuer Körper andere Dinge braucht – etwa rohes Fleisch statt Torte. Und sie spürt, dass sie Manches, zum Beispiel ihre Medikamente, gar nicht mehr benötigt.

 » […] die Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als Letztes der Kopfschmerz.«

Der Wegfall der physischen Beschwerden ist nur ein Vorzug ihres neuen Körpers. Im Gespräch mit Jonas und Philip wird ihr klar, dass er auch ein neues Lebensgefühl mit sich bringt. Ein Lebensgefühl, das nicht mehr von Angst, Einsamkeit und Traurigkeit dominiert ist:

 »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut es tut, keine Angst mehr zu haben.«

»Wovor hatten Sie denn Angst?«, fragte Lippe.

»Vor Treppen. Dass ich sie nicht mehr hinaufkomme oder hinunterpurzle. Überhaupt zu stürzen, in meiner Wohnung hilflos am Boden zu liegen und nicht mehr ans Telefon zu kommen. Angst, keine Dose und kein Einmachglas mehr aufzubekommen, und dann, wenn man zu nichts mehr Kraft hat … vor dem Ende.«

Kilian Leypold ist es mit seinem ungewöhnlichen Roman gelungen, auf amüsante, einfühlsame  und intelligent Art und Weise von dem Miteinander von Jung und Alt und dem Altwerden und Altsein überhaupt zu erzählen. Und das tut er kein bisschen schulmeisterlich, sein Roman erinnert vielmehr an ein modernes Großstadtmärchen.

Die entscheidende, omnipräsente Frage, die es vermag, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist: Wie konnte Kunigunde Ohm in den Körper des Tigers gelangen? Doch das verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht. Wir empfehlen: Roman kaufen und nachlesen. Es lohnt sich.

Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau Verlag: Berlin 2010.

Klaus Kordon (Foto: Wikipedia)

Klaus Kordons Roman »Das Karussell« ist nach einem einfachen Kinderspielzeug benannt. Aber halt. Ist es das wirklich? Ein einfaches Kinderspielzeug? Steht ein »Karussell« nicht für viel mehr? Ist es nicht eher ein Gegenstand, der uns an die Unbeschwertheit, an die Leichtigkeit der Kindheit zurückdenken lässt? Für Kordon hat mit diesem Karussell angefangen, wovon er in seinem neuen Roman (nach »Das Krokodil« und »Auf der Sonnenseite« sein dritter autobiographischer Roman) schreibt. Als Kind fand er es beim Stöbern in einer alten, verschlossenen Kommode:

[…] zwischen allerlei Krimskrams wie alten Papiertüten, Watteresten und Kerzenstummeln stand ein kleines, bunt angemaltes, blechernes Karussell. Es war sehr verstaubt und an manchen Stellen war bereits der Lack abgeplatzt.

Verständlicherweise wundert es ihn, zwischen all dem anderen Gerümpel ein Kinderspielzeug zu finden, das er nie zuvor gesehen hat. Seine Mutter sagt ihm schließlich, dass das Karussell seinem Vater, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war und an der Ostfront verschollen ist, gehört hat. Sie verspricht ihm alles zu erzählen, was sie vom Vater weiß – und Kordon erzählt es uns. »Das Karussell« ist die Geschichte von seinen Eltern, von Herbert Lenz und Lisa Gerber.

Zunächst sind es aber zwei Geschichten: Da ist die Geschichte von Herbert, genannt Bertie, der in einem Berliner  Waisenhaus lebt und zwar eine Mutter hat, aber ohne sie aufwachsen muss. Alles was ihm von ihr bleibt sind mal mehr, mal weniger regelmäßige Besuche im Waisenhaus. Ihn quält in seiner Kindheit vor allem die Frage, warum seine Mutter ihn abgegeben hat und – besonders nachdem sie geheiratet hat, schließlich sogar ein zweites Kind bekommt – nicht zu sich nimmt. Erst Jahre später, Bertie ist inzwischen erwachsen, wird ihm klar, was er schon als Kind geahnt hat:

Er wich zurück. Der Blick, mit dem sie ihn ansah! Ein Blick, der sie endgültig verriet. Sie warf ihm vor, dass es ihn gab! Er, ihr Sohn, hatte sie ins Unglück gestürzt.

Von diesem Augenblick an, ist seine Mutter für ihn nicht mehr existent – späte Annäherungsversuche ihrerseits weist er zurück.

Und da ist die Geschichte von Lisa Gerber, die zusammen mit drei jüngeren Geschwistern eine geborgene Kindheit im Harz erlebt bis der Vater im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt. Lotte Gerber, die Mutter, erinnert sich an die Worte des Vaters (»Bier geht immer«) als sie beschließt, einen Neuanfang zu wagen: Ihr Weg führt sie und ihre Kinder von Thale über Zerbst, wo sie drei Jahre lang erfolgreich eine Gastwirtschaft führt, nach Berlin. Hier werden die beiden Erzählstränge miteinander verknüpft, denn Lisa, mittlerweile Anfang 30 und selbst Wirtin in einem Lokal im Prenzlauer Berg, lernt den Maurergesellen Bertie kennen, der bei ihr sein Feierabendbier trinkt. Sie verlieben sich ineinander, doch ihr Glück währt nicht lange, der Zweite Weltkrieg hat bereits begonnen.

In einem Fernseh-Interview erzählt Klaus Kordon, dass er erst recherchieren musste, um diesen Roman zu schreiben. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass er darin die eigene Familiengeschichte erzählt, aber verständlich, wenn man diese Geschichte dann kennt. So hat er in der Charité die Geburtsurkunde des Vaters gefunden, der 1908 von einem 16 Jahre alten, ledigen Dienstmädchen zur Welt gebracht worden ist. Und in der Deutschen Dienststelle die Karteikarte, die Auskunft über den Wehrmachtssoldat Herbert Kordon (im Roman »Lenz«) gibt, etwa welche Feldpostnummer er hatte, in welchem Zeitraum er im Lazarett oder auf Fronturlaub war. Nur wie und wo sein Vater gestorben ist, das hat er auch hier nicht erfahren.

Im Interview verrät er einen weiteren Grund, warum sein Roman »Das Karussell« heißt: Ein Karussell drehe sich im Kreis, so Kordon, alles wiederhole sich und auch in seiner Familie haben sich viele Schicksale wiederholt: So habe sich seine Mutter beispielsweise gefragt, ob – nachdem ihr Vater und ihr Mann im Krieg gefallen sind – auch ihre Söhne einem Krieg zum Opfer fallen würden. Und nicht nur Kordons Vater hat viele Jahre im Waisenhaus verbracht, auch Kordon selbst lebte nach dem frühen Tod der Mutter fünf Jahre erst in einem Kinder-, später dann Jugendheim. Sogar seine eigenen Kinder mussten 1972 nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR zwei Jahre in einem Heim leben, bevor sie zu den Eltern, die vom Westen freigekauft worden waren, zurückkehren durften.

Dass sein Vater so viel Unrecht und soviel Pech in seinem Leben gehabt hat, habe ihn schon als Kind beschäftigt. Mit diesem Roman sagt er, habe er ihm vielleicht ein Denkmal setzen wollen, wollte, dass seine Geschichte nicht vergessen wird. Es ist ihm gelungen.

Klaus Kordon: Das Karussell. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012.

Klaus Kordon im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg

Weltentdecker

Heute ist der letzte Fachbesuchertag, schon am späten Vormittag drängen sich ebenjene und die Pressevertreter durch die Messehallen. Während gestern eines der kulinarischen Highlights in Halle 3 der Popcorn-Stand vom Brockhaus-Verlag war, scheint es heute die Gratissuppe im essbaren Schälchen zu sein, die am Stand eines Kochbuch-Verlages an hungrige Messebesucher verteilt wird.

Neben den aufwendig gestalteten Ständen der großen Verlage sind auch kleine, weniger bekannte Verlage vertreten – viele mit einem tollen Programm und einige etwas kuriose Verlage, in der spirituellen Ecke in Halle 3.1 etwa »Happy Science Deutschland«, dessen japanischer Messias (für alle die es noch nicht wissen: der lebende Buddha des 21. Jahrhunderts!) seinen Rezipienten Erleuchtung verspricht … Besonders gut gefällt uns der Stand von »Kein & Aber«, der mit Wohnzimmer-Atmosphäre zum Aufenthalt einlädt.

Das Sofa sieht gemütlich aus. (Messestand von »Kein & Aber«)

Verweilen kann man auch ganz gut im Neuseeland-Pavillon, in dem das diesjährige Gastland seine Bücher ausstellt (wobei man die hier eher suchen muss). Am Eingang weisen freundliche Messe-Mitarbeiter darauf hin, dass man auf die Wasserflächen Acht geben soll. Hinter der Tür empfängt uns dann Dunkelheit und ein sich im Wasser spiegelnder Mond – ganz nach dem Motto des Gastlandes »While you were slepping« (Andrea Diener  hat in einem Beitrag der FAZ-Messezeitung vom Donnerstag interessante Theorien darüber aufgestellt, was nachts wohl im Neuseeland-Pavillon passiert, dann müsste es dort schließlich hell sein: FAZ-Artikel von Andrea Diener

»Dunkel war’s, der Mond schien helle« (Neuseeland-Pavillon)

Ach ja, und die Bücher, die hängen an Drahtseilen in vielen kleinen Zelten, deren Eingang von folkloristischen Masken gesäumt ist. Dazwischen bieten zahlreiche Sitzflächen die Möglichkeit sich auszuruhen und dabei einer der vielen „Performances“ mit singenden und tanzenden Maori beizuwohnen, die mehrmals am Tag stattfinden.

Bücherzelt (Neuseeland-Pavillon)

Nach der Mittagspause läuft uns am Stand von Klett-Cotta eine der ersten Cos-Playerinnen über den Weg. Ein Zeichen dafür, dass das Wochenende und damit die Besuchertage nahen? Wir schlendern weiter durch Halle 4 und treffen auf einen netten Herrn beim »Bollmann Bildkarten Verlag«. Er erzählt uns, dass man seinen Großvater den »Merian des 20. Jahrhunderts« nannte und zeigt uns die Stadtkarten, die der Verlag seit 1948 vertreibt. Auf den ersten Blick erinnern sie an neuzeitliche Stiche, aber die Wolkenkratzer auf der Karte Frankfurts sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Karte doch jüngeren Datums sein muss. Ein paar Schritte weiter werden an einem Stand (interaktive) Globusse ausgestellt, leider funktioniert der Stift für die interaktiven Funktionen gerade nicht …

Weltentdecker

Wir bleiben kurz bei der Lesung eines neuseeländischen Autors stehen, gehen dann aber doch weiter, denn gleich fängt die Verleihung des Jugendliteraturpreises an. Deswegen können wir auch leider nicht auf einem der Massagestühle Platz nehmen, wo geschultes Personal auf verspannte und gestresste Literaturkritiker wartet.

Neuseeländischer Autor bei einer Lesung

Nachdem wir das Congress-Centrum und den »Saal Harmonie« gefunden haben, sind wir erstaunt über die Größe der Veranstaltung (der Deutsche Jugendliteraturpreis wurde in diesem Jahr zum 57. Mal verliehen, seit sieben Jahren findet er in diesem großen Rahmen statt), der Moderator verrät später, dass im Publikum 1200 Gäste sitzen (und stehen!).

Gleich geht’s los …

Den üblichen Grußworten, heute von Stephanie Jentgens, Alexander Skippies, Jürgen Boos und Lutz Stroppe, folgt die Bekanntgabe der Jury-Entscheidung

Kinderbuch: »Frerk, du Zwerg!«

Bilderbuch: »Mia schläft woanders«

Jugendbuch: »Es war einmal Indianerland«

Sachbuch: »Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? «

Preis der Jugendjury: »Sieben Minuten nach Mitternacht«

Sonderpreis Gesamtwerk Illustration: Norman Junge

Die Preisträger auf dem Sofa

Ein kleiner Höhepunkt während der bisweilen etwas synthetisch wirkenden Veranstaltung (eine Stimme aus dem Off führte zusammen mit dem Moderator durch den Abend) ist die Übergabe des Preises in der Sparte Sachbuch an Oscar Brenifier, den Autor von »Was wäre, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da?«: Als der Moderator ihm den Preis überreichen will behauptet er

I’m not the author of this book.

und verweist auf eine Dame im Publikum, die, wie sich herausstellt als sie auf die Bühne kommt, seine deutsche Verlegerin ist. Sie klärt schließlich auf:

Er ist der Autor des Buches, er macht bloß immer Witze …

Zwischendurch sorgt das Ensemble »Ritmatak!« für Unterhaltung: Ihr Programm besteht daraus, dass sie mit »scheinbar banale[n] Alltagsgegenständen« (heute natürlich Bücher) Klänge erzeugen. Ihr Auftritt kommt im Allgemeinen gut an, allerdings nicht bei allen (dem Autor von »Es war einmal Indianerland« scheint die Zweckentfremdung nicht zuzusagen). Sekt und Häppchen im Anschluss an die Preisverleihung lassen wir aus und machen uns auf den Weg nach Hause – für heute haben wir genug gesehen, gehört und gelesen …

 

 

Stella Dreis

Zugegeben, ein paar Worte gibt es in Stella Dreis Wimmelbuch »Grimms Märchenreise« schon. Aber erst zum Schluss. Auf einer Doppelseite am Ende des Buches werden die zuvor in Bildern entwickelten Märchen jeweils kurz zusammengefasst. Das 200jährige Jubiläum der Brüder Grimm war für die Illustratorin und den Thienemann Verlag Anlass, dieses Buch herauszubringen.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die die Märchen nicht getrennt voneinander erzählt werden, sondern parallel. Bereits auf der ersten Doppelseite sieht, wer genau hinschaut, alle Haupt- und Nebenfiguren der insgesamt sieben verschiedenen Märchen: Hänsel und Gretel, die sieben Brüder, die später von ihrem Vater zu Raben verwünscht werden, die Bremer Stadtmusikanten, die Ziege und ihre sieben Geißlein, Frau Holle, Schneewittchen, die sieben Zwerge, den gestiefelten Kater und nicht zuletzt das Rotkäppchen. Ihm kommt eine besondere Rolle zu:

Rotkäppchen führt durch Grimms Märchenwelt! Auf jeder Doppelseite ist es sieben Mal zu sehen … Es ist auf der Suche nach seinem roten Käppchen.

Dem Betrachter eröffnen sich beim Anschauen phantasievolle und lebendige Bildwelten, auf denen man das Schicksal der jeweiligen Protagonisten (nachdem man sie gefunden hat!) verfolgen kann. Wenn man die Märchen kennt, macht das umso mehr Spaß. Dann sieht man an den vielen kleinen Details, zum Beispiel dem Uhrenkasten, in dem sich eins der sieben Geißlein vor dem Wolf verstecken konnte, wie intensiv sich Stella Dreis mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Vorher oder parallel zum Anschauen das Grimmsche Märchenbuch aus dem Regal zu nehmen und (nach) zu lesen, ist also empfehlenswert. Und weil es ein »Wimmelbuch« ist, gibt es sehr viel zu entdecken, das Buch mehrmals anzuschauen lohnt sich – man findet fast immer etwas Neues, das man vorher noch nicht gesehen hat.

Stella Dreis ist es mit ihren collagenartigen Illustrationen, die aus mehreren Schichten zu bestehen scheinen, gelungen, die verschiedenen Märchen gekonnt miteinander zu verweben. Der Titel hält, was er verspricht, ihre Bilder nehmen den Betrachter mit auf eine Reise in die Märchenwelt der Brüder Grimm – ganz ohne Worte.

Die 1972 in Plovdiv, Bulgarien, geborene Illustratorin hat schon im Kindesalter begonnen, zu malen. Zu ihren Lehrern gehörten die bulgarische Künstlerin Antoneta Zvetkova und Prof. Popovski. In den frühen 1990er Jahren beschloss sie, nach Deutschland zu gehen, wo sie seit 1995 studiert und arbeitet. Nachdem sie einige Jahre im Modebereich tätig war, wandte sie sich wieder der Illustration zu – für ihr erstes Buchprojekt »De stad die ervandoor ging« (»The city that went away«) wurde sie für den Hasselt Book Price nominiert und ihr Buch wurde bei Clavis Publishers verlegt. Heute lebt und arbeitet sie in Heidelberg.

 

Stella Dreis: Grimms Märchenreise. Ein Wimmelbuch. Thienemann: Stuttgart u.a. 2012.

Stella Dreis im Interview mit dem Thienemann Verlag

 

Foto: Megan Lewis

Nein, wir befinden uns nicht im Jahr 1968, wie die Überschrift vielleicht vermuten lässt. Sondern im Sommer des Jahres 1965 in Corrigan, einer kleinen Stadt in Australien. Sie ist der Schauplatz von Craig Silveys Roman »Wer hat Angst vor Jasper Jones?«, der im September erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Laut dem 13-jährigen Protagonisten Charlie Bucktin ist es der heißeste Sommer, an den er sich erinnern kann. Doch nun zum Inhalt: Eines Nachts klopft Jasper Jones, der Außenseiter des Städtchens, an Charlies Fenster und nimmt ihn mit, um ihm einen grausamen Fund zu zeigen: Jasper hat die erhängte Laura Wishart auf seiner Lichtung im Busch gefunden. Diese Entdeckung wirkt wie ein Katalysator für den Roman. In dieser Nacht, in diesem Sommer verändert sich alles – nicht nur für Charlie.

Jasper, der Sohn eines Weißen und einer Aborigine, und Charlie beschließen, die Leiche Lauras in einem kleinen See verschwinden zu lassen und auf eigene Faust nach ihrem Mörder zu suchen – etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig, denn beiden ist klar, dass man Jasper sofort für den Schuldigen halten würde. Und Charlie, der am Anfang noch an der Richtigkeit dieser Entscheidung gezweifelt hat, verliert diese Skepsis mit der Zeit:

In diesem Moment wurde mir klar, dass wir vielleicht wirklich aus den richtigen Gründen das Falsche getan hatten. Wenn wir Laura Wishart dort gelassen hätten, wo sie war, würde man sie finden. Irgendwann würde jemand auf diese Lichtung stoßen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie Jasper damit in Verbindung brachten. Er hatte recht. Diese Stadt suchte tatsächlich nur nach einem Vorwand. Und eine Zufälligkeit hätte ihnen gereicht.

Er realisiert, wie ungerecht und verlogen die Gesellschaft Corrigans, angefangen bei seiner eigenen Familie, ist. Aber zunächst erliegen auch er und Jasper den gängigen Vorurteilen, schließlich verdächtigen sie einen anderen gefürchteten Bürger Corrigans, Jack Lionel, der Mörder von Laura zu sein.

Silveys Roman ist vielfältig: Die Auflösung des vermeintlichen Mordfalls steht zwar im Fokus und hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht, aber daneben zeichnet der Schriftsteller auch ein scharfes und erschreckendes Bild der Gesellschaft einer australischen Kleinstadt Mitte der 1960er Jahre, die geprägt ist von Rassismus, Gewalt, Ungerechtigkeit, Paternalismus und Spießbürgerlichkeit. In der es vor allem um die Aufrechterhaltung der eigenen Fassade geht, um die Abgründe, die sich dahinter auftun, zu verbergen. Dabei knüpft der Autor auch zeitgenössische Ereignisse wie die Mondladung oder den Vietnamkrieg in die Geschichte ein. Und er erzählt die Geschichte von Charlie, aber auch von Jasper und von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft. Die Dialoge zwischen beiden, in denen es um elementare menschliche Dinge und Fragen geht, gehören zu den Stärken des Romans:

Es muss beruhigend sein, tatsächlich an Gott und Jesus und all den Kram zu glauben. Vielleicht füllt einen das so aus, dass man sich keine Sorgen mehr darüber machen muss. Aber irgendwie ist es auch, als würde man die Tür zumachen, weil es draußen kalt ist und zieht, nicht? Deswegen bleibt es draußen trotzdem weiter kalt, nur man merkt es nicht mehr, weil einem selbst warm ist.

Der 1982 geborene Autor, der neben dem Schreiben Sänger und Songwriter der Band »The Nancy Sikes!« ist, wurde für den Roman bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Im Text finden sich zahlreiche Verweise auf die amerikanischen Südstaatenliteratur, etwa Harper Lees »Wer die Nachtigall stört« oder Mark Twains Klassiker »Die Abenteuer des Tom Sawyer«, mit denen Silveys Werk zurecht verglichen wird.

Das einzige „Manko“ für nicht-sportbegeisterte Leser könnte vielleicht die sehr ausführliche Beschreibung der Cricket-Turniere sein – denn der australische Volkssport spielt auch in Corrigan eine wichtige gesellschaftliche Rolle.  Aber das tut dem Roman insgesamt keinen Abbruch und man kann, so finden wir jedenfalls, darüber hinwegsehen.

Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Aus dem Englischen von Bettina Münch. Rohwolt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg 2012.

 

 

 

 

 

 

Dominosteine? Auf einer Karte? Nein, das kann nicht sein. Was wir auf den ersten Blick dafür gehalten haben, sind in Wirklichkeit Häuser. Häuser auf einer Karte, die das türkische Dorf Çatal Hüyük im Jahr 6200 vor Christus zeigt. Sie ist Teil eines Wandbildes, das 1963 bei einer Ausgrabung entdeckt worden ist, und das bis heute „älteste erhaltene kartografische Dokument der Welt“. In Heekyoung Kims Buch »Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt«, dessen zweite Auflage in diesem Jahr beim Gerstenberg Verlag erschienen ist, darf sie natürlich nicht fehlen.

Sie ist aber nur eine von insgesamt achtzehn Karten, die die koreanische Autorin ausgewählt hat: Das breite Spektrum reicht von polynesischen Stabkarten über einen Stadtplan des antiken Roms, mittelalterliche Karten und Sternkarten bis hin zu U-Bahn-Plänen heutiger Großstädte. Und sogar „sprechende Karten“, die allseits bekannten (und vor allem bei Autofahrern beliebten) Navigationsgeräte, kommen darin vor.

Die mesopotamische Karte von Çatal Hüyük zeigt auch, seit wann Karten und Symbole bereits unverzichtbarer Teil unserer Umwelt sind. Unverzichtbar, um sich im Kleinen, etwa in einem Gebäude oder einer fremden Stadt, und im Großen, zum Beispiel in einem Land, auf einem Kontinent, der ganzen Welt oder gar dem Weltall, zurechtzufinden und zu wissen wo’s langgeht.

Neben dem reinen Informationswert von Karten geht es der Autorin aber auch immer darum zu zeigen, was man an ihnen noch erkennen kann, welche zusätzlichen Informationen in ihnen stecken – so liefern die dargestellten Stadtkarten von Wien, Paris und Seoul beispielsweise auch die vermeintlich einfache, aber elementare Erkenntnis:

Wir Menschen können nicht ohne Wasser leben.

Wie sehr man von seinem eigenen, regionalen Standpunkt ausgeht und geprägt ist, verdeutlichen die abgebildeten koreanischen Weltkarten. Europa ist auf ihnen nur ein kleiner Fleck am linken Rand. Diese asiatische, für uns als Europäer ungewöhnliche Perspektive macht das Buch sehr reizvoll und ist » […] ein wichtiger Gedanke im Rahmen der Globalisierung« – findet die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Und wir? Wir drücken die Daumen!

Heekyoung Kim: Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt. Aus dem Koreanischen von Hans-Jürgen Zasorowski. 2. Auflage. Gerstenberg: Hildesheim 2012.

Portrait Dirk Reinhardt
Foto: Stefan Haas / Julienne Haas

Ungefähr vier Jahre, die Zeit vom 12. März 1941 bis zum 21. Mai 1945, beschreibt der Protagonist Josef Gerlach, geboren 1927, in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Wie viele andere Jugendliche im Rhein-Ruhr-Gebiet gehört er zu den »Edelweißpiraten«. Dirk Reinhardts gleichnamiger Roman ist durch den Tagebuchstil unmittelbar und authentisch. Der Leser kommt Josef, den alle nur „Gerle“ nennen, sehr nah und erlebt vier Jahre Geschichte in zweifacher Art und Weise: in Form von Gerles eigener, persönlicher Geschichte, die ihrerseits wiederum Teil der allgemeinen deutschen Geschichte ist. Durch die Einbettung dieser Tagebuchaufzeichnungen – für die der Autor übrigens auch zeitgenössische Tagebucheinträge herangezogen hat – in eine Rahmenhandlung, schlägt Reinhardt gekonnt eine Brücke zur heutigen Zeit und bringt nebenbei auch noch ein Geheimnis ins Spiel, das den Roman bis zum Ende spannend macht.

Weil die Jugend von Gerle und seinen Freunden in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs fällt, ist sie alles andere als unbeschwert. Gerle, der in dem Kölner Arbeiterviertel Ehrenfeld lebt, ist zu Beginn der Aufzeichnungen 14 Jahre alt. Er ist am Ende seiner Schulzeit – und seiner Zeit in der Hitlerjugend angelangt. Keine drei Wochen nach dem ersten Eintrag treten er und sein bester Freund Tom aus der nationalsozialistischen Jugendorganisation aus. Dass dieser Austritt nicht ohne Folgen bleibt, merken sie schnell, etwa bei der Suche nach einer Lehrstelle, die länger dauert und beschwerlicher ist als bei ihren Altersgenossen, die Mitglied der HJ sind. Kurze Zeit später schließen sie sich einer Gruppe von oppositionellen Jugendlichen an, den Edelweißpiraten.

Irgendwie gefallen mir diese Typen am Neptunbad. Sie senken ihre Stimme nicht, wenn sie reden. Sie sehen einem in die Augen und nicht zu Boden. Sie albern rum und haben Spaß dabei. Sie tragen bunte Klamotten, nicht das ewige Braun wie in der HJ, nicht wie die vielen grauen Mäuse, die über die Straße laufen. Sie wirken irgendwie ungezwungen und – frei. Ja, ich glaub, das ist das richtige Wort. Sie wirken frei.

Und weil die Institutionen des NS-Regimes ihnen diese Freiheit nehmen wollen, legen sie sich mit ihnen an. Ihre Aktionen werden nach und nach politischer, einer der Höhepunkte ist eine einzigartige Flugblattaktion am Kölner Hauptbahnhof, die sich in diesem Monat zum siebzigsten Mal jährt. Damals führt sie dazu, dass die Edelweißpiraten endgültig ins Visier der Gestapo geraten, man sie verfolgt, verhaftet und foltert. Daneben erleben Gerle und die anderen Jugendlichen aber auch das, was zu einer ganz „normalen“ Jugend dazugehört – Freundschaften, die erste große Liebe, Musik – und das macht den Roman so reizvoll.

Cover EdelweißpiratenBis man die Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer anerkannt hat, hat es lange gedauert. Im Nachwort erklärt Reinhardt, der auch Historiker ist, dass sie noch bis in die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Kleinkriminelle oder Unruhestifter galten. Er vermutet den Grund für diese Einschätzung vor allem darin, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft diesen Widerstand von „unten“ nicht sehen wollte, nicht wahrhaben wollte, dass auch „der kleine Mann von der Straße“ Widerstand leisten konnte, wenn er wollte, um so vielleicht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ zu entgehen.

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten. Aufbau Verlag: Berlin 2012. Ab 12 Jahren.

Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk.

 

Räuber Hotzenplotz (Illustration: Franz Josef Tripp)
Räuber Hotzenplotz (Illustration: Franz Josef Tripp)

Mit diesem Satz poltert der Räuber, der seinen Namen mit einer kleinen Stadt in Mährisch-Schlesien teilt*, unvermittelt in die Geschichte und fordert die Herausgabe von Großmutters neuer Kaffeemühle. Um wen es geht?

Um den Räuber Hotzenplotz natürlich! Und die Kaffeemühle, die könnte er heute gut gebrauchen, denn er hat Geburtstag. Vor genau 50 Jahren, am 1. August 1962, erschien der erste Band von Otfried Preußlers Trilogie um den „Mann mit den sieben Messern“, mittlerweile ein Klassiker der Kinderliteratur.

Angriffe der Kritiker, die zu Beginn der 1970er Jahren gegen Hotzenplotz und seinen Schöpfer wetterten, haben beide glücklicherweise unbeschadet überstanden. Im Herbst, pünktlich zum Jubiläum, erscheint beim Thienemann-Verlag eine neue Auflage für die Mathias Weber die schwarz-weiß Illustrationen von Franz Josef Tripp gekonnt koloriert hat. Wir gratulieren dem Räuber zu seinem 50sten und wünschen ihm, dass er noch vielen Generationen Lesevergnügen bereitet.

* Seit 1945 heißt die Stadt „Osoblaha“ und gehört zu Tschechien.

Antje Damm (Foto: Leonie Damm)

Eine Kugel aus Grashalmen, gerade so groß, dass sie gut in eine kleine Hand passt, steht am Anfang und am Ende von Antje Damms Geschichte »Kiki«, die morgen beim Hanser Verlag erscheint. Die Kugel war das letzte Geschenk, das Antje, die Protagonistin, von ihrer Freundin Kiki bekommen hat, denn Kiki ist tot. Der Tod von Kiki steht allerdings nicht im Fokus der Handlung, es geht der Autorin vielmehr darum von der Freundschaft der beiden Mädchen zu erzählen, von dem, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit erleben.

Die inzwischen gelb gewordenen und vertrockneten Grashalme zu Beginn der Geschichte verdeutlichen den zeitlichen Abstand, der zwischen Rahmen- und Binnenerzählung liegt. Antje, die mittlerweile erwachsen gewordene Ich-Erzählerin, kennt die Überraschung, die ihre Freundin darin für sie versteckt hat, immer noch nicht:

Ich weiß nicht, was es ist, denn dafür hätte ich die Kugel kaputtmachen müssen und das wollte ich nicht. Aber ihre Geschichte, die kann ich euch erzählen.

Und das tut sie dann auch. Sie erzählt den Lesern die Geschichte jener Kugel, die Geschichte von ihrer Freundschaft zu Kiki: Antje und Kiki, die eigentlich Kirsten heißt, lernen sich im Herbst, kurz nachdem Antje mit ihren Eltern und den zwei kleinen Brüdern aufs Land gezogen ist, kennen. Die Freundschaft ihrer Mütter bringt die beiden Mädchen zusammen und sie entdecken schnell ihre Sympathie füreinander. Es folgt ein Jahr voller gemeinsamer Erlebnisse und Abenteuer. Kiki ist die abenteuerlustigere von beiden, sie ist unbekümmerter, sorgloser und bringt die etwas vorsichtigere Antje manchmal dazu, an ihre Grenzen gehen und sie zu überschreiten – etwa dann, wenn sie Kiki dazu animiert, etwas im Mohr, dem kleinen Lebensmittelgeschäft ein paar Straßen weiter, zu klauen:

Als wir um die Ecke gebogen waren, schwenkte ich die Möhren vor ihrer Nase rum und rief: „Ich hab mich getraut!“ Kiki sagte: „Na ja, Möhren hätte ich ja nicht gerade geklaut.

Ihre gemeinsame Geschichte endet an einem grauen Novembertag, an dem Kiki einen tödlichen Verkehrsunfall hat. Obwohl, tut sie das wirklich? Eigentlich nicht, denn die Erinnerung an Kiki bleibt. Sie ist selbst bei der erwachsenen Antje noch so lebendig, dass sie ihre Leser auf eine authentische Reise in ihre Kindheit mitnehmen kann. Antje Damm ist es gelungen, glaubwürdig und liebevoll von der Freundschaft zwischen zwei Kindern zu erzählen, einer Freundschaft, die schön und traurig zugleich ist, weil sie viel zu schnell vorbei ist.

Und was in dem Strohkügelchen drinsteckt, das Kiki für ihre Freundin gebastelt hat, bleibt auch am Ende offen:

Vielleicht ist gerade die Vorfreude, noch etwas von Kiki zu bekommen, so schön, dass ich es nie öffnen werde.

Antje Damm: Kiki. Carl Hanser Verlag: München 2012. Zum Vorlesen und ersten Selberlesen.

Hans-Joachim Gelberg (Foto: Alexa Gelberg)

»Wo kommen die Worte her?«, fragte Luise Kaschnitz 1962 in »Ein Gedicht«. Der Autor und Verleger Hans-Joachim Gelberg hat diese Frage über 100 Autoren mit auf den Weg gegeben, als er sie zur Mitarbeit an seiner nunmehr fünften, nach der Verszeile aus Kaschnitz‘ Gedicht benannten Lyrikanthologie eingeladen hat. Im April ist die zweite Auflage erschienen.

Die verschiedenen Antworten, die er darauf bekommen hat, ziehen sich wie ein roter Faden durch die von ihm herausgegebene Gedichtsammlung: Eine, die von Frantz Wittkamp, hat uns besonders gut gefallen:

Weißt du nicht, wo ein Wort entsteht?
Im Buchstabengarten, im Alpha-Beet.

Neben allerlei Sprachspielereien wie dieser bietet die Anthologie ABC-Gedichte, Verse die wir alle noch aus unserer eigenen Kindheit kennen, visuelle Poesie, Rätsel in Gedichtform, Humorvolles, Philosophisches, aber auch Ernsthaftes. Dazu zählt etwa das Gedicht »Ein Koffer spricht«, das Ilse Weber vor ihrer Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz verfasst hat.

Die Welt der Wörter steht im Fokus, es geht darum was wir mit Worten machen und was Worte mit uns machen, so wie es Max Kruse beschreibt:

Worte können dich betören,
lügen, prahlen oder schwören,
dich in tiefstem Schmerz ertränken
und die höchsten Freuden schenken.

Auch ältere Gedichte aus dem frühen 19. Jahrhundert sind neben den eigens für die Anthologie verfassten Beiträgen von bekannten und weniger bekannten Autoren zu finden. Im Ganzen liegt der Schwerpunkt jedoch auf Texten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Zu den insgesamt über 150 Autoren zählen bekannte (Kinder-) Lyriker und Schriftsteller wie Josef Guggenmos, James Krüss, Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Christine Nöstlinger und Paul Maar, um nur einige von ihnen zu nennen.

Allerdings sollten nicht nur die Worte, sondern auch die Bilder erwähnt werden, die eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Gelberg hat Künstler wie Rotraut Susanne Berner, Axel Scheffler, Nikolaus Heidelbach und viele mehr für sein Projekt gewinnen können. So sind tolle Illustrationen entstanden, Illustrationen, die eine gekonnte Verbindung zwischen Text und Bild herstellen.

Die Gedichtsammlung ist vielfältig: Sie macht vor allem Spaß, zuweilen aber auch nachdenklich, sie bringt uns oft zum Lachen, manchmal aber auch zum Innehalten. Sie macht auf die unglaubliche Vielfalt von Sprache aufmerksam. Der Untertitel, übrigens eine Idee von Gelbergs Enkelin Elisa, trifft den Nagel auf den Kopf: »Gedichte und Bilder aller Art« für Kinder – und Erwachsene!

Zum Schluss noch ein Vers von Frantz Wittkamp:

Der Letzte macht das Gedicht aus.

Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Wo kommen die Worte her. Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Gedichte und Bilder aller Art. 2. Auflage. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012

Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)
Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)

Im Mai dieses Jahres verstarb der Illustrator und Kinderbuchautor Maurice Sendak. Sein weltberühmtes Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« war die erste Begegnung vieler Menschen mit Literatur. Unsere Autorin Franziska Vorhagen hat einen Nachruf geschrieben.

Als »Wo die wilden Kerle wohnen«, Sendaks bis heute populärstes Bilderbuch, 1963 in Amerika erschien, stieß es auf viel Kritik. Neben dem gegenständlichen Zeichenstil – Sendak zählte Ludwig Richter, Wilhelm Busch und Heinrich Hoffmann zu seinen Vorbilder –, der nicht der zeitgemäßen Ästhetik entsprach, war es vor allem der Inhalt, an dem man Anstoß nahm. Man empfand das Bilderbuch als zu gewalttätig für Kinder, geht es in der Geschichte doch wenig zimperlich zu:

Die wilden Kerle brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen.

Und dennoch schaffte Sendak mit diesem Bilderbuch seinen Durchbruch, auch international. 1967 erschien die deutsche Übersetzung beim Diogenes Verlag, der das Buch auch heute noch verlegt. Man hatte wohl erkannt, dass das Gewaltsame in Sendaks Geschichten nicht Selbstzweck ist, sondern es vielmehr um die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit geht.
Da gibt es zum Beispiel Max, den Protagonisten. Im Traum segelt er dorthin, wo die wilden Kerle wohnen. Mit ihrem kämpferischen Gebaren können sie ihn nicht einschüchtern. Er schaut ihnen einfach so lange in die Augen (ohne dabei zu blinzeln, das ist der Trick!)  bis sie ihn, davon schwer beeindruckt, »den wildesten Kerl von allen« nennen, zu ihrem König ernennen und gemeinsam mit ihm eine gute Zeit verbringen.

Ich glaube nicht daran, dass man Kindern dies sagen darf, jenes aber nicht. Man soll ihnen alles sagen.

Sendak war der unpopulären Meinung, Kindern keine eigens für sie gestaltete, beschönigte Welt zu zeigen, sondern plädierte dafür, Kindern stets die Wahrheit zu sagen, ihnen nichts vorzuenthalten, weil sie früher oder später sowieso mit der Wirklichkeit konfrontiert werden würden. Eine Überzeugung, die sich in der Kinder- und Jugendliteratur erst in den 1970er Jahren auf breiter Ebene durchsetzen sollte.

Seine eigene Kindheit verbrachte der Sohn polnisch-jüdischer Immigranten zusammen mit zwei Geschwistern im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Schon als Kind soll er den Wunsch gehabt haben, Buchillustrator zu werden. Mit zwanzig Jahren fing er im New Yorker Spielzeugladen F.A.O. Schwarz als Schaufensterdekorateur an. Der Bucheinkäufer des Ladens stellte den Kontakt zu Ursula Nordstrom her, die Lektorin beim Verlag Harper & Row war und ihm seine ersten Aufträge verschaffte. Bevor 1956 »Kenny‘s window«,  sein erstes eigenes Kinderbuch, erschien, illustrierte Sendak Bücher anderer Autoren. Er war außerordentlich produktiv, sein Gesamtwerk beläuft sich auf über einhundert Bücher, die von den 1950er Jahren an bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts erschienen und für die er mit zahlreichen Preisen geehrt wurde – unter ihnen der Hans-Christian-Andersen-Preis (1970) und der Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis (2003).

Maurice Sendak, einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren und -illustratoren des 20. Jahrhunderts, ist am 8. Mai in Danbury, Conneticut gestorben. Er wurde 83 Jahre alt.